„Dieser Sieg ist die Niederlage für jene, die Russland zerstören wollen.“ Hart und aggressiv wirkte Putin in seiner Siegesrede; eine ausgestreckte Hand sieht anders aus. Aber Putin wird auf die moderaten Mitglieder der städtischen Proteste zugehen müssen. Es war kein ‚sauberer Sieg‘, wie zahlreiche Belege für Manipulationen zeigen; auch waren die Gegner Putins medial und administrativ deutlich benachteiligt. Aber dennoch: die Mehrheit der russischen Wähler steht auch nach Ansicht regierungskritischer Experten noch immer im Lager Putins. Dies nicht zuletzt, weil Putin von den Bürgern als berechenbarere Variante angesehen wird. Putin gilt für viele noch immer als Anker der Stabilität – vor allem für die weniger gebildeten, älteren, einkommensschwächeren und kleinstädtisch-ländlichen Wähler. Putin ist es auch gelungen, unterschiedlichste Hoffnungen und Erwartungen der Wähler zu bedienen. Die Stärke Putins ist nicht zuletzt aber auch das Ergebnis der Farblosigkeit seiner Rivalen; dies gilt für die anderen Kandidaten wie für die Mehrzahl der Anführer der Proteste.
Zu Recht ist einzuwenden, dass dies auch das Ergebnis der strikten medialen Kontrolle durch Putin ist. In den letzten Jahren wurden Kritiker von den staatlich kontrollierten elektronischen Medien marginalisiert oder dämonisiert. Aber das erklärt die mangelnde Attraktivität der Opposition nicht zur Gänze. Prochorov, Navalnyj, Nemcov oder Kasparov haben keine (überzeugenden) Konzepte für das Land vorzulegen vermocht. Die harsche und bedingungslose Kritik an den korrupten und autoritären Verhältnisse war unabdingbar; aber als Wegweiser, wohin sich Russland entwickeln soll, ist das zu wenig. Das erklärt auch, warum viele der politischen Funktionäre, die sich an der Protestbewegung beteiligen – wie Javlinskij, Ryžkov oder Kasjanov – bei den demonstrierenden Bürgern nicht sonderlich angesehen sind. Es sind vielmehr Schriftsteller, Journalisten und Künstler, die als authentische Vertreter einer auf Teilhabe pochenden städtischen Bevölkerung gesehen werden. Die strukturelle Schwäche der politischen Anführer bleibt aber, ihre inhaltliche Diversität, die mangelnde Glaubwürdigkeit oder aber die Radikalität einiger ihrer Anführer. Der gerade von ausländischen Beobachtern als charismatische Führungsfigur stilisierte Aleksej Navalnyj ist zwar wirklich ein unerschrockener Aktivist gegen die staatliche Korruption; er ist auch ein überzeugender Kampagnenredner. Er ist aber auch ein radikaler russischer Nationalist, der die Nordkaukasier mit der Pistole zu beseitigen empfohlen hat.
Die zentrale Losung der Bolotniki – ‚Russland ohne Putin – wird nur von einer Minderheit der russischen Bürger geteilt. Aus den Daten des regierungskritischen Levada-Institutes wird deutlich, dass nur sechs Prozent diese Forderung voll unterstützen und nur 12 Prozent stimmen dem ‚eher zu‘. 29 Prozent ‚eher nicht‘ und 38 Prozent ‚gar nicht‘. Auch die Bereitschaft, an Demonstrationen teilzunehmen ist mit 13 Prozent sehr gering.
Putin wäre gut beraten, auf die moderaten Kräfte zuzugehen; einen Teil von deren Agenda zu kooptieren, insbesondere wirksame Aktionen gegen die staatliche Korruption. Ohne politische Reformen aber – von denen einige bereits eingeleitet wurden – wird der öffentliche Unmut nicht zu beenden sein.
Entscheidend ist in dieser Hinsicht die Bildung der neuen Regierung. Putin muss frische, junge und kompetente Gesichter in die Schlüsselfunktionen berufen. Zwar hat Putin mehrfach öffentlich versichert, Dmitrij Medvedev die Regierung anzuvertrauen; es ist aber unbestritten, dass dieser nicht die Kraft hat, die moderaten Kräfte der Protestbewegung zu überzeugen. Der unrühmliche Verzicht auf eine zweite Amtszeit hat Medvedev als führungsstarke und unabhängige politische Gestalt diskreditiert. Den besonnene liberale Finanzminister Kudrin damit zu betrauen, wäre ein wirksameres Signal zu Dialog und Reformbereitschaft nach Innen, aber auch gegenüber den ausländischen Kritikern Russlands; klug wäre es auch, Prochorov als moderaten Vertreter der Bolotniki in die Regierung aufzunehmen.
Putin aber hat bei diesen Entscheidungen auch andere Machtzirkel zu berücksichtigen. In seiner Führungsriege drängen manche auf einen repressiveren Kurs; dazu zählen nicht zuletzt Vertreter aus den Sicherheits- und Nachrichtendiensten. Deren Sorge gilt nicht zuletzt ihren Vermögen, die sie in den letzten Jahren unter dem Schutz ihres Patrons Putin anhäufen könnten. Putin ist dabei verstrickt in ein Netz aus kleptokratischen Bindungen. Ein liberales Regierungskabinett wäre nötig, um das autoritärer denkende Dreigestirn von Naryškin (Vorsitzender der Duma), S. Ivanov und V. Volodin (beide im Präsidialamt) auszugleichen.
Zudem wird Putin die bisherige Staatspartei ‚Geeintes Russland‘ radikal reformieren müssen. Ende Mai werden auf dem Parteitag der ‚Partei der Diebe und Betrüger‘ radikale Entscheidungen erwartet. Möglich ist eine Umbenennung und personelle Erneuerung, aber auch die Auflösung des Netzwerkes grauer Funktionäre und Karrieristen.
Die Bolotniki haben schon sehr viel erreicht. Die städtischen Bürger legen die politische Apathie und den resignative Rückzug in das private Leben ab. Kreativ und mutig sind die Forderung nach politischer Teilhabe und das Begehren, staatliche Willkür in die Schranken zu weisen. Aber es müssen darüber hinaus konkrete, erreichbare Ziele gesetzt werden, um eine wirkliche inhaltliche Alternative zu Putin aufzubauen. Die Bewegung muss auch das Land und die ärmeren Schichten der Bevölkerung mobilisieren können. Wenn es nicht gelingt, dieser Bewegung auch eine organisatorische Struktur und charismatische Führungsfiguren zu geben, wird sie rasch an Kraft verlieren.
Beim Lesen dieses Zustandsberichtes der RF wurde ich immer wieder auch an den gegenwärtigen Zustand der USA erinnert: Auch für die USA fehlt derzeit ein “Wegweiser”, wohin sich die verwundbar gewordene Großmacht entwickeln soll. Wirtschaftlich und politisch.
“Die strukturelle Schwäche der politischen Anführer bleibt, ihre inhaltliche Diversität, die mangelnde Glaubwürdigkeit, oder aber die Radikalität einiger Anführer.” Trifft dies nicht auch auf die Opposition in “Gods own country” zu? Angesichts eines Obama, dem es bei den letzten Wahlen gelungen ist, “unterschiedlichste Hoffnungen und Erwartungen der Wähler zu bedienen”? Und der beim neuerlichen Wahlgang “für viele noch immer als Anker der Stabilität gilt” und dessen Stärke “nicht zuletzt auch das Ergebnis der Farblosigkeit seiner Rivalen” ist? Sie alle haben bisher “keine (überzeugenden) Konzepte für das Land vorzulegen vermocht”. Wie denn auch, wenn an die Stelle der überschaubaren Bipolarität in der Welt eine unberechenbare Multipolarität der Mächte samt unüberblickbarer globaler ökologischer Entwicklungen getreten ist, die selbst die Kapazitäten stressgewohnter Geheimdienste überfordern? Daraus erklären sich zum Gutteil auch die paranoiden Anwandlungen Putins, der – ebenso wie Obama oder die im Austausch befindliche Führungsriege in Peking – in dieser allgemeinen Verwirrung der Geister (“Die ich rief, die Geister, werd’ ich nun nicht los …”) ziemlich rat- und orientierungslos da steht. Von Europa ganz zu schweigen …
Ewald Stadler sieht das mit dem “unsauberen” Sieg nicht so wie Sie.
Laut ihm hätten “die Wahlen die Standards der Demokratie erfüllt”
http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/737801/Stadler_OSZE-erzaehlt-Schmarren-ueber-RusslandWahl
Ich kann Stadler’s Argumentation nicht (ganz) zustimmen. Vor allem seine Aussage, es sei nicht möglich, in einem Drittel der Wahllokale Unregelmässigkeiten feststellen haben zu können, weil das mehr als 30.000 Wahllokale wären, ist ganz einfach entgegenzuhalten, dass die OSZE nur sagt, in einem Drittel der beobachteten (!) Wahllokale seien Unregelmässigkeiten festgestellt worden und da v.a. bei der Stimmenzählung. Außerdem habe ich persönlich live Wahlfälschungen gesehen.
Seien wir aber froh, dass Herr Strache Putin bescheinigt, “Garant für ein starkes und berechenbares Russland” zu sein. H.C. Strache hat eben eine gewisse Schwäche für “garantierte Stärke”. Für “Berechenbarkeit” dagegen schon weniger …
@2Martin: Herr Stadler wird wohl in seinem einen Wahllokal in der Stadt Samara mehr und (für ihn) verlässlicheres wahrgenommen haben als die OSZE-Beobachter in den von ihnen betreuten über die gesamte RF verstreuten 98 Wahllokalen … In 32 von diesen seien demnach Unregelmäßigkeiten bei der Auszählung beobachtet worden. Herrn Stadler hat aber offenbar nur sehr gefallen, dass er vor “seinem” Wahllokal keine Dreieckständer vorgefunden hat, für ihn somit also ein Indiz für “Demokratiestandard”…