In Kiiv haben die ‚orangen Revolutionäre’ unter der Losung der Rettung der Demokratie zur Rechtsbeugung gegriffen. Die orangen Zeitungsspalten in Kiiv spotten über die alkoholisierten und rückständigen Landsleute, die, in die Hauptstadt gekarrt, eine lächerliche Figur auf dem Majdan abgäben. Dieses selbstgerechte und manichäische Denken, das dem hehren orangen Lager das vermeintlich rückständige der blauen Landsleute entgegenstellt, ist Audruck dieser verzerrten und eingeengten Wahrnehmung, die den Apologeten der orangen Bannerträger eigen ist. Diese ist getragen von der sozialen Arroganz der Kiiver Mittelschicht und voller Ignoranz für das klägliche Scheitern der angeblichen Lichtgestalten der orangen Revolution.
JušÄenkos Dekret über die Auflösung der Verchovna Rada ist für nahezu alle nicht-ukrainischen Rechtsexperten eine schwere Beugung, wenn nicht gar ein klarer Bruch der Verfassung. Jene ist völlig deutlich in ihrer taxativen Aufzählung der präsidialen Auflösungsgründe; keiner davon ist gegeben, auch nicht der präsidiale Rekurs auf den angeblichen Rechtsbruch durch die Überläufer aus seinen eigenen Reihen in das Lager der blauen Koalitionäre. Doch selbst wenn man das Auflösungsdekret als verfassungskonform ansieht, steht dem Präsident explizit nicht zu, vorgezogene Wahlen zur Verchovna Rada anzusetzen.
Auch des Präsidenten Verweis auf die angebliche Machtusurpation der blauen Koalition durch das im Jänner angenommene ‚Gesetz über die Regierung’ ist rechtlich umstritten, vor allem aber politisch bizarr, denn dieses Gesetz wurde mit den Abgeordnetenstimmen der organgen Volktribunin Timošenko angenommen – jener heiligen Julia, die nun in Brandreden fordert, die blauen Abgeordneten davonzujagen, mit denen sie doch eben noch gegen JušÄenko gestimmt hatte.
Die Majdan-Revolution der frühen Wintertage 2004 hat viele Hoffnungen geweckt – vor allem die nach Freiheit, Würde und Selbstachtung; aber auch die Hoffnung auf eine frische Elite, die das Land mit Entschlossenheit, Mut, Weitsicht und Integrität führt. Die Ikonen dieser mutigen Demonstranten taug(t)en aber kaum, diesen Hoffnungen gerecht zu werden. Präsident JušÄenko hatte noch 2001 die Bürger, die gegen die Ermordung des Journalisten Gongadze durch die Henker des KuÄma-Regimes (dessen Teil JušÄenko ebenso war wie Timošenko) auf die Straße gingen beschimpft und die Gralsfigur Timošenko hatte noch kurz davor mit den Meistern der Bestechlichkeit um P. Lazarenko an ihrem Aufstieg in den Klub der ukrainischen Reichen geschmiedet.
Die neu entdeckte Leidenschaft dieser selbstinszenierten Ikone am sozialen Populismus, den sie in den Regierungsgeschäften deutlich werden liess, hat zu wirtschafts- und finanzpolitisch erratischen Entscheidungen geführt, dem Einbruch der Wachstumsraten des ukrainischen BIP, dem Abzug ausländischer Direktinvestitionen nicht zuletzt aufgrund der rachsüchtigen Rufe Timošenkos nach der Renationalisierung kriminell privatisierter Unternehmer, und einem ausufernden Budgetdefizit. Dies war umso ernüchternder, als zugleich Günstlinge der neuen Führung zu den Gewinnern der eilig angesetzten Reprivatisierungen zählten.
Die post-revolutionäre Regierung ist bald im Strudel von Korruptionsvorwürfen zwischen Timošenko und JušÄenko und den Intrigen oranger Oligarchen wie P. Porošenko auseinandergebrochen; die Wahlen zur Verchovna Rada wenig später waren bereits ein bitterer Fingerzeig enttäuschter Bürger; als dann im Machtrausch von Timošenko und Porošenko und dem Zaudern JušÄenko’s auch noch die von den Wählern unterstützte orange Mehrheitskoalition scheiterte, was das groteske Finale der verratenen Majdan-Revolution erreicht.
Die Rückkehr der Betrüger, Kleingeister und – nun wieder der blauen – Oligarchen war das bittere Ergebnis der unsäglichen orangen Unfähigkeit. Sie war Ausdruck der an den Ambitionen der Volktribunin und der Entscheidungsschwäche des, durch die Verbrecher des alten Regimes gezeichneten, Präsidenten gescheiterten Majdan-Erhebung. Wenn nun JušÄenko zum vermeintlichen Befreiungsschlag ansetzt und gleichsam das orange Scheitern durch einen Handstreich auszumerzen versucht, ist das Risiko enorm, das er damit eingeht. Daran ändert auch nichts, wenn JušÄenko nun in geradezu bizarrer religiöser Deutung davon spricht, die (blauen) Pharisäer und Händler aus dem Tempel zu jagen.
Das Urteil des Verfassunsgerichtes, dem die beiden Lager entgegenharren, wird aber kein Richterspruch, sondern ein politischer Spruch sein – wie immer er auch ausfällt. Macht wird in der Ukraine nicht durch Recht eingehegt, das Recht wird durch die Mächtigen zurechtgebogen. Die Gemüter werden sich an diesem Entscheid erhitzen, aber blutige Schrecknisse werden den Majdan nicht entweihen.
Versagen die Richter dem Präsidenten die Gefolgschaft, kann das Land trotzdem noch in eine schlimme Krise stürzen – dann aber mit einem seiner Autorität völlig verlustig gegangenen Präsidenten. Erhält JušÄenko aber die Unterstützung der Richtermehrheit, dann wird das Land den Weg der Neuwahlen bestreiten, die bereits jetzt durch Verfahrensmängel angefochten werden könnten. Was aber werden die orangen Lichtgestalten machen, wenn die blauen Koalitionäre an den Wahlen nicht teilnehmen sollten: Werden sie dann in der Verchovna Rrada alleine die Sitzreihen ausfüllen und dabei die West- und Zentralukraine hinter sich wissen? Wo werden sich dann die ostukrainischen Bürger wiederfinden und was wird dann aus der jetzt von JušÄenko so salbungsvoll beschworenen Einheit des Landes?
Sollten die blauen Selbstbereicherer, die die sozialen Ängste und Nöte derer, die im verschmutzten und verseuchten Osten des Landes wohnen, schamlos für ihre Zwecke benutzen, aber an dem Wahlgang teilnehmen (was sie aus Machtgier tun werden), ist eine Mehrheit für diese sehr wahrscheinlich. Die Ukraine wäre dann wieder dort, wo sie auch vor zwei Wochen schon war. Das Land wäre damit durch eine nutzlose Verfassungskrise erschüttert und durch das Aufreißen kaum noch verheilter Gräben kein Stück weitergekommen, sondern zurückgeworfen worden.
Wird dann die Rachsucht des blauen Lagers zu einem neuerlichen Machtrausch ausarten, der das Recht beugt und bricht? Was auch immer am Ende dieses Abenteuers stehen mag: Die Bürger der Ukraine werden sich, wie auch jetzt schon, in den Fängen der ukrainischen Elite des orangen und des blauen Lagers wiederfinden, die in ihrer Unfähigkeit, Unentschlossenheit, Verlogenheit und Eitelkeit den Aufbruch des Majdan zunichte gemacht hat; einer Elite, die den Kompromiss vermeidet, aber die völlige Macht anstrebt.Die orangen Ikonen und die blauen Revisionisten – sie taugen alle nicht.