Die suizidal-terroristischen Anschläge in Moskau zeigen, dass die islamistischen nordkaukasischen Rebellen ihren Aktionsradius wieder ausdehnen können. Das zentrale Anliegen der russischen Führung, die Gewalt im nördlichen Kaukasus einzuhegen und zu isolieren, ist gescheitert. Die gezielten Tötungen regionaler Islamisten konnten deren Terror bislang nicht brechen. Das erklärt sich auch dadurch, dass die Attentate von kleinen, dezentral organisierten Terrorzellen verübt werden, die nur lose vernetzt sind. Doku Umarov, der ‚Emir‘ des Kaukasischen Imamats, ist zwar deren wichtigster, aber nicht der alleinige Anführer.
Der radikale Islam der Salafiyya und der Wahhabiya ist den nordkaukasischen Völkern an sich fremd; ein moderater Volksislam, vertreten durch eine staatstreue Gelehrtenschar, die volkstümliche Anwendung islamischer Riten und Regeln ohne politisches Eiferertum hat diese Region Russlands nachhaltig geprägt. Die islamistische Radikalisierung der anfangs säkular-nationalistischen Sezessionisten, allen voran in Cecnja, wurde durch das rücksichtslose und brutale Vorgehen der russischen Streitkräfte befördert; eingesickert ist diese Strömung aber durch saudische, pakistanische und jordanische Agitatoren. Der säkulare Separatismus wurde durch den transnationalen Islamismus verdrängt. Die Loslösung ihrer engeren Heimat von Russland ist für diese Marodeure längst nicht mehr das Ziel; das einigende ideologische Band für diese Kämpfer ist die Durchsetzung eines islamischen Imamats im gesamten Nordkaukasus, der damit aus dem russisch-orthodoxen Russland herausgebrochen werden soll.
Viele der islamistischen Radikalen sind aufgewachsen inmitten grausamer Brutalität und archaischer Gewalt und haben durch den Krieg auch eine zivile Lebensperspektive verloren. Die soziale Verwahrlosung und wirtschaftliche Verelendung der Region (die Mehrzahl der Bewohner stützt sich auf bäuerliche Subsistenz- und semikriminelle Schattenwirtschaft), aber auch die bisweilen korrupte Verflechtung lokaler islamischer Würdenträger mit den staatlichen Autoritäten hat die rasch anwachsende junge Bevölkerung für die sozial egalitären Parolen der religiösen Eiferer offen gemacht. Für einige der radikalen Rebellen ist der Kampf aber auch nur ein Gewerbe, eine Möglichkeit, sich gut bezahlt zu verdingen. Zahlreiche Rebellen sind längst keine Glaubenskrieger mehr oder waren es nie; auch sind sie keine national(istisch)en Separatisten. Viele sind inzwischen bezahlte Söldner, die in dem kriegszerstörten Land keinem anderen Gewerbe mehr nachgehen können als dem Kriegsgeschäft, ohne das sie ihre Familien nicht mehr ernähren können.
Die totalitären Eiferer aber, die radikalen Islamisten sind einem Kompromiss mit der russischen Staatsführung völlig verschlossen. Die Terrorzellen sind mit internationalen islamistischen Netzwerken aus der al Khaïda-Gruppe im afghanisch-pakistanischen Grenzgebiet und im Irak verbunden; dort erhalten sie logistische Unterstützung, Trainingslager, Rückzugs- und Ruheräume. Mit Waffen werden die Islamisten durch die al-Khaïda, aber auch durch korrupte russische Sicherheitskräfte versorgt; finanziert wird der Terror durch die starken nordkaukasischen Diasporagemeinden in Saudi Arabien, Jordanien und der Türkei. Überlagert wird der terroristische Widerstand durch kriminelle Geschäfte, allen voran durch Drogen- und Waffenhandel – Geschäfte, an denen auch viele russische Staatsdiener beteiligt sind.
Die russische Führung hat, wenn auch spät, erkannt, dass die Einhegung des islamistischen nordkaukasischen Terrorismus nicht allein mit militärischen Mitteln gelingen kann. Die brutalen Säuberungen und Misshandlungen von Zivilisten hatte den Islamisten vielmehr immer neue Rekruten zugeführt. Auch sind die Sicherheitskräfte, allen voran die Armee, weder ausgerüstet noch ausgebildet, um terroristische Zellen, die sich immer wieder in gebirgige Regionen zurückziehen, auszuschalten. Die Stabilisierung des nördlichen Kaukasus ist aussichtlos, wenn es nicht gelingt, die wirtschaftliche und die soziale Lage zu verbessern. Nur wenn auch zivile Lebensperspektiven eröffnet werden, können die Anreize, sich als Söldner zu verdingen, ausgelöscht werden. Damit können radikale Islamisten marginalisiert werden.
Zudem gilt es aber auch, die lokalen korrupten und nepotistischen Eliten zu entmachten. Solange die russische Führung diese tribalistischen feudalen Strukturen nicht aufzubrechen gewillt ist, versickert nicht nur finanzielle Aufbauhilfe; auch der Versuch, durch materielle Unterstützung das Vertrauen der lokalen Bevölkerung zurück zu gewinnen, wird dann scheitern. Zerschlagen werden muss aber auch das kulturelle Narrativ von den kriminellen Kaukasiern, das noch immer die russische Alltagskultur prägt.
Die xenophobe Ablehnung der kaukasischen Landsleute durch die ethnischen Russen, v.a. der vielen Wanderarbeiter in den Städten, schürt ethnische Gegensätze und Feindseligkeiten. Diese kulturellen Vorurteile aber werden durch islamistischen nordkaukasischen Terror geschürt und verfestigt und durch martialische Erklärungen der russischen Führung weiter geschürt. Trotz alledem – auch eine kohärente zivile Kehrtwende der russischen Führung kann keine rasche Lösung der militanten Gemengelage in der Region erreichen. Das wird eine Aufgabe sein, die, wenn sie überhaupt gelingen sollte, mehr als eine Generation beschäftigen wird.
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Wenn an dieser Stelle sehr häufig von Terrorismus, Hass und Gewalt im Kaukasus – die nach Russland zu Unschuldigen getragen wird – verursacht von islamistischen Nordkaukasieren die Rede ist, was sagen Sie dann zu dem kürzlich veröffentlichten Video amerikanischer Soldaten, die eine Gruppe von Zivilisten im Irak hinrichteten, weil sie eine Fotokamera eines Journalisten der Nachrichtenagentur Reuters für eine Waffe hielten?
dazu kann ich nur sagen: zwischen den beiden themen gibt es keinen analytischen zusammenhang.
Da haben Sie wohl recht! Aber mein Einwurf betont, dass das Gesicht abscheulicher Gewalt, das Gesicht des Krieges und des Terrorismus, die vielfältigsten Züge tragen kann.
nun – das ist allseits bekannt.
Warum sind dann “Kriege manchmal unvermeidlich”??? Diese Worte stammen aus Ihrem Mund.
Die interessante Frage hierbei ist wie das kulturelle Narrativ vom kriminellen, dem Russen kulturell und zivilisatorisch unterelegenen Kaukasier zerschlagen werden kann.
Dieses Konzept ist sowohl in der klassischen kanonisierten russischen Literatur von Puškin bis Lermontov vorhanden und wird auch in aktuellen russländischen Medien gerne gepflegt (vgl. z.B. die TV-Serie Naša Russia).
Der Kaukasus war historisch der Orient Russlands, also jener Ort, an dem sich Russland als Kulturbringer sah und sich vor den “wilden” Völkern des Kaukasus abgrenzen konnte, während gleichzeitig die Ursprünglichkeit und Unverdorbenheit dieses Ortes in der Romantik betont wurde. Bei der Identitätsbildung Russlands im 19. Jahrhundert spielte somit die Perzeption des Kaukasuses, als Ort an dem die eigene kulturelle Überlegenheit deutlich wurde, eine große Rolle.
Die Überwindung derartiger Ansichten und Vorurteile und die damit verbundene notwendige kritische Bearbeitung der Werke klassischer russischer Schriftsteller auch im Schulunterricht, dürfte ein dementsprechend langwieriger Prozess werden, zu dem bis jetzt zudem auch die politische Bereitschaft nicht vorhanden zu sein scheint.
Der Ausflug hin zur russischen Literatur ist diesbezüglich in der Tat ein Spannender! Ein 1996 erschienener Film mit dem Titel Пленный nach dem Roman Кавказский Пленный von Vladimir Makanin, also denselben Titel wie Tolstojs “Der Gefangene im Kauskasus” tragend. In diesem Film von Aleksej Ucitel macht der gefangene russische Soldat in einer wichtigen Sequenz einem tschetschenischen Mädchen mit dem Wort “Подарок” buchstäblich symbolhaft den Frieden zum Geschenk, denn er bastelte eine Taube aus Holz für das Kind.
@ lucas maurer: Sie haben gänzlich recht – es wäre ein sehr langwieriger protest. auch wenn medvedev in den letzten tagen immer wieder darauf hingewiesen hat, dass die kaukasier auch russische staatsbürger sind, sehe ich keinerlei breite basis für eine revision des kulturellen narrativs.
@ lilly: kriege sind manchmal notwendig, wenn umfassende bedrohungen vitaler (sicherheits-)interessen nicht durch andere sicherheitsstrategien abgewendet werden können.
Wie schön wäre es, wenn dabei die Vernunft siegen könnte und die Menschen einsehen würden, dass abscheuliche Gewalt wie Krieg und Terrorismus nur noch mehr Not hervor bringt und auch Rache nicht befriedigen kann, sondern nur noch mehr Rachedurst säht. Diese Vorstellungen aber sind wohl zu idealistisch als dass Menschen danach handeln würden. Verbrechen trägt viele Gesichter und Greuel wird es leider immer geben. Dagegen tun kann man aber viel, indem die Menschen ihre Perspektive zurück erhalten und ein Leben in Sicherheit, Frieden und wirtschaftlicher Entfaltungsmöglichkeit entwickeln können. Anders wird den Leidenden noch die Würde entzogen und ein Leben ohne Würde nimmt auch den Unterdrückern die ihre.
Marginalie:
Wer oder was ist denn bloß diese “al Khaïda-Gruppe”؟ ?
Das arabische “القاعدة” sollte wohl besser als “al-Qaida” transskripiert werden, auch weil diese Schreibweise die “korrekteste” der häufiger vorkommenden Schreibweisen ist. Das Trema zeigt zwar die getrennte Aussprache des “i” an, aber nicht, dass das erste “a” lang betont wird. Auch das “Kh” scheint mir fehl am Platz und der korrespondierende arabische Buchstabe sollte besser durch ein “Q” repräsentiert werden. Also würde ich, wenn es um das Anzeigen der richtigen Aussprache geht, die Schreibweise “al-QÄ’ida” empfehlen.
herzlichen dank für den hinweis. leider kann wordpress die von Ihnen vorgeschlagene transliteration nicht darstellen. ich hatte die von mir verwendete transliteration von einem arabischsprechenden fachmann erhalten. ich selbst konnte, weil dieser sprache nicht mächtig, die tauglichkeit dieses vorschlages nicht prüfen.
Ich halte nichts von gewaltsamer, kriegerischer Problemlösung und Aufrechterhaltung der Sicherheit mittels “notwendigem” Krieg, denn Krieg bedeutet doch eben gerade Unsicherheit und das Ende der Stabilität.
Darüber hinaus: Wer leidet denn in Kriegen am meisten? Sind es die wirklich Verantwortlichen am jeweils herrschenden Konflikt oder vielmehr unschuldige Zivilisten? Genauso eindeutig wie die Antwort auf diese Frage muss dann doch auch die Ablehnung des Angriffskrieges jeglicher Prägung sein!
@ Gerhard Mangott 9
„Sie müssen diesen Krieg in Afghanistan stoppen“!¹
¹ http://diepresse.com/home/politik/aussenpolitik/618534/Richard-Holbrooke_Titan-der-USDiplomatie-ist-tot