Das in Prag unterzeichnete Abrüstungsabkommen (‘New START’) ist in vielen Bereichen enttäuschend. Die Reduktion der nuklearen Arsenale ist bescheiden und wurde ohnehin nur durch ‘kreative’ Zählregeln erreicht. Einzuräumen ist zweifellos, dass mit diesem Vertrag die Rückkehr zur vertraglichen Rüstungskontrolle erreicht wurde. Nach der Kündigung des ABM-Vertrages (Anti-Ballistic Missile Treaty von 1972) durch George W. Bush (2001) und dem auslaufenden START-Vertrag von 1991 wäre die gesamte Abrüstungsarchitektur zusammengebrochen. Zu begrüßen ist auch die Bereitschaft Russlands und der USA, im neuen Abkommen Inspektions- und Verifikationsmechanismen zu verankern: Die Vertragsparteien haben das Recht, jährlich 10 Inspektionen von aktiven nuklearen Sprengköpfen und 5 Inspektionen von Lagerstätten für Sprengköpfe und Anlagen zur Verschrottung nuklearer Arsenale vorzunehmen; auch werden Telemetriedaten von 5 Raketentests jährlich ausgetauscht. Zuletzt darf auch die vertrauensbildende Wirkung dieses Dokuments im Verhältnis der beiden Staaten nicht unterschätzt werden.
Enttäuschend aber ist die geringe Reduktion der nuklearen Sprengköpfe. Zwar lässt die Absenkung auf 1.550 aktive Sprengköpfe anderes vermuten; diese wird aber nahezu ausschließlich durch neue Zählregeln erreicht: So werden strategische Bomber nur mehr als ein einziger Sprengkopf gezählt, obwohl diese bis zu 20 nukleare Waffensysteme transportieren können. Die russische Bomberflotte kann technisch mit bis zu 800 Sprengköpfen aufgerüstet werden; im neuen Vertrag werden den 76 Bombern aber nur 76 Sprengköpfe zugerechnet. Außerdem ist im Vertrag nicht vorgesehen, dass deaktivierte Sprengköpfe zerstört werden müssen; sie dürfen weiterhin gelagert werden. Dies erlaubt daher auch, in einem Krisenszenario das Arsenal wieder aufzubauen (upload capability).
Nachdem Russland aus finanziellen Gründen in den kommenden Jahren weniger Trägersysteme (launchers) – landgestützte Interkontinentalraketen (ICBMs), seegestützte ballistische Raketen auf strategischen U-Booten (SLBMs) und strategische Bomber – haben wird als die USA, kann es weniger stark wiederaufrüsten als die USA. Russland liegt mit 566 aktivierten Trägersystemen (2010) bereits jetzt unter der vertraglichen Obergrenze von 700; die USA besitzen derzeit 798 aktive Abschussvorrichtungen und müssen daher bis 2017 einige davon abrüsten. Die USA beharrten auf der upload capability (vor allem bei Minuteman III ICBMs und Trident SLBMs) vor allem, um einer möglichen nukleare Aufrüstung Chinas begegnen zu können, das sich derzeit auf wenige Trägersysteme und Sprengköpfe beschränkt. Eine weitere Absenkung der Trägersysteme wird von den USA auch ausgeschlossen, weil damit der nukleare Schutzschirm für alliierte und befreundete Staaten nicht mehr aufrecht erhalten werden könne.
Das neue Abrüstungsabkommen kann daher nur überzeugen, wenn es zur Grundlage weitergehender Abkommen werden kann. Diese müssen stärkere quantitative Reduktionen vorsehen und Russland und die USA binden, Sprengköpfe nicht nur zu deaktivieren, sondern zu zerstören. Unverzichtbar wird auch sein, andere Waffensysteme mit einzubeziehen: dies gilt vor allem für ballistische Raketen mit konventionellen Sprengköpfen, deren Arsenal von den USA ausgebaut wird, weltraumgestützte Waffensysteme, aber auch taktische Atomwaffen, von denen Russland deutlich mehr besitzt als die USA (vermutlich 3.-4.500 zu 500). Russland weigert sich derzeit aber kategorisch, das Arsenal taktischer Nuklearwaffen zu verkleinern. Zuletzt wird es auch notwendig werden, die anderen Nuklearmächte – allen voran China, Frankreich und Großbritannien – in den Abrüstungsprozess mit einzubeziehen. Nur wenn das in Prag unterzeichnete Abrüstungsabkommen weiterreichende Abrüstungsgespräche einleiten wird, darf es als bedeutsam eingestuft werden. Für sich genommen ist es nur ein bescheidenes Dokument.
Ist am 8.4.2010 als ‘Fremde Feder’: ‘Abrüstung durch kreative Zählung‘ erschienen.
30 Jahre nach dem Ende des Höhepunkts des Kalten Krieges sind die Atomwaffen also dezimiert, jedoch immer noch in der Lage diesen Planeten mehrere duzend mal zu vernichten. Der Bauernsohn Gorbacev, für mich ein wahrer Held, setzte den ersten Schritt in Richtung Befreiung von dieser Bürde, denn nichts anderes ist die atomare Bedrohung. Allerdings bedeutet die Möglichkeit, einen anderen Lebensraum zu zerstören auch Macht, grausame und niederträchtige zwar, aber wen interessiert das in der Weltpolitik schon. Somit müssen alle jeden ein wenig bedrohen, damit wir uns vor Abschreckung nicht mehr rühren können und am Ende hoffen müssen, dass sich unsere selbst gebastelten Monster nicht verselbstständigen. Was hat den Menschen dazu bewogen, sich solche absurden Waffen zu kreiieren? Viele Gedanken mache ich mir zu diesen Themen und jede Menge Anlass zur Verwunderung und zur Angst ist für mich gegeben. Das einzige, das uns bleibt, ist die Gegenwart zu verändern, nicht die Vergangenheit können wir korrigieren, noch haben wir Einfluss auf das Zukünftige. Und jetzt sollten die Mächtigen handeln und Ihrer Macht einen würdigeren Hintergrund bieten, als die Möglichkeit zu besitzen, den Tod zu bringen.
Die “Bescheidenheit des (vorliegenden) Dokuments” ist nach Meinung von Dr. Martin Senn (laut einem Kommentar in “Die Presse”) vor allem auch seiner erforderlichen Akzeptanz im amerikanischen Kongress (balance of power!) geschuldet:
“Vor allem nach der Abstimmung über die Gesundheitsreform scheint es das Gebot der Stunde zu sein, die republikanischen Senatoren nicht noch weiter von der Administration zu entfremden. Die geringfügigen Reduktionen und vor allem das Beharren der Obama-Administration, durch den neuen Vertrag keine rechtliche Verbindung zwischen Offensiv- und Defensivsystemen herzustellen, werden für die Zustimmung des Senats zur Ratifikation von START förderlich sein. … Nachdem START den Skeptikern um Senator Jon Kyl wenig Angriffspunkte bietet, könnte dieser Vertrag letztlich auch ein Baustein auf dem Weg zur Ratifikation des umfassenden Teststoppvertrages durch den Senat sein.”
Bei alldem ist nämlich einzukalkulieren, dass die Demokraten ebenso wie bei der “Gesundheitsreform” (die dadurch schlussendlich nur ein “Reförmchen” geworden ist) die Mehrheit für die Ratifikation im Senat erst mühsam erkämpfen müssen.
Dr. Senn umreisst die generelle Problematik in seinem Kommentar mit einem Satz: “Eine Bewertung dieses neuen START-Vertrages darf nicht auf den Aspekt der Reduktionen beschränkt bleiben.”
martin senn hat mit diesem argument durchaus recht. nur darf dies nicht davon abhalten, das abrüstungsdokument so zu bewerten, wie es dieses verdient: es ist eine illusion der abrüstung. aber wenigstens erlaubt der vertrag, diese ‘illusion’ zu überprüfen. die verifikationsbestimmungen sind sicherlich bedeutsamer als die reduktionsziffern. dennoch darf man diesen vertrag nicht als durchbruch bezeichnen. er eröffnet lediglich die möglichkeit – kritiker meinen, er verhindert zumindest nicht – den durchbruch in zukünftigen verträgen.
Sondern, sollen die Atomwaffen nun vernichtet werden? Der atomare Müll ist ja nicht ganz unproblematisch und zu lagern auch schwierig, was tun? Что делать? wie Czernysevkyj es fragen würde…
Ich habe ein l abgelegt, denn ich bin doch eine Lilie und keine Lillyfee 🙂
Ich begebe mich nur sehr ungern in die Tiefen der atomaren Abrüstungstheorien, wie vermutet werden kann, denn ich wäre schon gar nicht für die Aufrüstung gewesen, wäre ich gefragt worden. Da flog ich aber noch mit den Mücken, wie mein Vater zu sagen pflegte, als solche Dinge beschlossen wurden.
Aber warum ist es eine Illusion, daran zu glauben, dass diese “kreative” Abrüstung gelingen kann, frage ich sie, Herr Gerhard Mangott?