Das Urteil ist eindeutig: Putin sei eine autokratischer Herrscher, der die demokratischen Institutionen ausgehöhlt und durch ein Netz von Nachrichtendienstoffizieren unterwandert habe. Polizeigewalt, eine willfährige Justiz, die Knebelung der (staatlichen) Medien, die Attacken gegen regierungskritische NGOs, die Marginalisierung des Parlaments seinen Ausdruck dieser autoritären Verhärtung.
Der Befund ist richtig, aber eben doch zu einfach, um der komplexen Verhältnisse in Russland gerecht zu werden. Als Putin die Führung Russlands übernahm, stand das Land vor dem Kollaps seines Finanz- und Bankwesens. Die Bedienung der Schulden war ausgesetzt, die Währung deutlich abgewertet worden. Die soziale Verelendung, die mit den neoliberalen Reformen 1992 eingeleitet wurde, der radikale Bevölkerungsrückgang, der radikale Abfall der Lebenserwartung, die niedrigen Reallöhne, unbezahlte staatliche Transferleistungen hatten das Meinungsbild der russländischen Bevölkerung radikal geprägt. Die Mehrheit der Bevölkerung forderte nicht mehr demokratische Mitbestimmung, sondern starke Führung, Ordnung, Stabilität, Berechenbarkeit und einen bescheidenen Wohlstand.
Zugleich drohte Russland auseinanderzubrechen; das Land hatte aufgehört ein einheitlicher Rechtsraum zu sein. Die meisten Provinzen weigerten sich, föderale Gesetze umzusetzen, billigten Gesetze, die föderalen Rechtsnormen eindeutig widersprachen und die Steuertransfers waren vielfach zusammengebrochen.
An dieser Weggabelung russländischer Politik übernahm mit Putin ein Nachrichtendienstoffizier die Führung, für den die willensstarke Führung entscheidend war. Putin zeigte sich als autoritärer und nationalistischer Modernisierer. Diese Haltung hat Putin eingenommen, weil für ihn allein dadurch eine Rückkehr Russlands zu einer Großmachtrolle – sein eigentliches Ziel – möglich schien. Alles, was sich dieser ‚Mission’ entgegenstellte, auch demokratischer Widerspruch, wurde und wird als Störfaktor angesehen, der beseitigt und ausgeschaltet wurde.
Die russländische Politik ist autoritärer geworden – aber das mit Zustimmung und Zuspruch der Bevölkerung, die wegen der sozialen Verelendung der neunziger Jahre von der Demokratie – oder dem was damals so genannt wurde – enttäuscht ist. Im April 2007 erklärten 71 Prozent der Bürger, das Land brauche eine ‚eiserne Hand’. Das erklärt auch die konstant hohen Zustimmungsrate zu Vladimir Putin. Seit November 2006 liegen diese Raten über 80 Prozent; auch wenn miteinberechnet wird, dass ein Teil davon auf die willfährige Berichterstattung in den staatlichen und staatsnahen Medien zurückzuführen ist, bleibt die Zustimmung außerordentlich hoch.
Ein Grund dafür ist der Umstand, dass das Realeinkommen der Bürger seit dem Amtsantritt Putins deutlich wächst – wenn auch ungleich: Die Ärmsten sind heute weniger arm, die Reichen noch reicher. Dennoch ist der Anteil der Bevölkerung, der unterhalb der Armutsgrenze lebt deutlich zurückgegangen. Die Wirtschaft wächst seit 2000 durchschnittlich um 6.6 Prozent im Jahr. Der Staatshaushalt zeigt nach den chronischen Budgetdefiziten der neunziger Jahre deutliche Überschüsse. Diese lagen 2005 bei 8.2 Prozent des BIP. Die Devisenreserven sind von 12.5 Mrd. USD in 2000 auf 386 Mrd. USD im April 2007 angewachsen. Die Reduktion der hohen Schuldenlast ist ein weiteres Merkmal der russländischen Finanzsituation.
Natürlich ist dies auch auf die hohen Preise für Energieträger und metallurgische Produkte zurückzuführen und auf eine niedrig bewertete russländische Währung in den ersten Jahren der Herrschaft Putins. Dazu kamen aber ein radikal verändertes Steuersystem, neue ordnungspolitische Vorgaben und eine staatliche Investitionspolitik, die den Aufschwung abstützten.
Russland ist heute ein wirtschaftlich und finanziell sehr viel stärkeres Land. Die Führung des Landes stützt sich auf die Zustimmung der Mehrheit der russischen Bürger ab. Aber der Preis dafür ist enorm hoch: Russland ist zu einem autoritären Land mit starken Beschränkungen für demokratische Mitsprache geworden.
Aber wenn dieser Befund der Herrschaft Putins derart gemischt ist, wie soll dann der Umgang mit Russland aussehen? Aufgeregte und aggressive Attacken auf die russische Führung, sind zwar verständlich und an sich angebracht. Diese Funktion sollten die medialen und zivilgesellschaftlichen Akteure in der EU auch wahrnehmen. Auf der staatlichen Ebene ist zwar auch öffentliche Kritik notwendig; aber zielführender ist ein anderer Zugang: Ein kritischer, aber umsichtiger, besonnener und geduldiger Dialog abseits der öffentlichen Bühne ist vorzuziehen. In diesen Monaten entscheidet sich die langfristige Ausgestaltung der Beziehungen zwischen der EU und Russland. Fehler die jetzt gemacht werden, werden langwährende Konsequenzen haben. Umsichtige und verantwortliche Staatskunst ist dieser kritischen Lage angemessen. Ziel europäischer Politik sollte es nicht sein, vorrangig kritische heimische Öffentlichkeiten zu bedienen, sondern das zu tun, von dem zumindest bescheidene Änderungsimpulse zu erwarten sind.
Russland wird ohnehin nicht von außen demokratisiert werden können. Dazu ist die derzeitige Führung zu selbstbewusst und die liberale Opposition in Russland (aus Selbstverschulden) zu schwach. Auch ist die Glaubwürdigkeit europäischer Kritik an der russischen Führung in der russischen Bevölkerung gering; misstrauisch wird beobachtet, wie jene westlichen Staaten, die in den Augen der Bürger Russlands für den wirtschaftlichen Niedergang und die soziale Verelendung ihres Landes verantwortlich waren, nunmehr die russische Führung kritisieren. Die Demokratisierung Russlands steht nicht jetzt an, aber vielleicht für die nächste Generation, wenn eine wohlhabende Mittelschicht, die sich nicht nur auf die großen Städte konzentriert, mehr Mitsprache einfordern wird. Wandel durch wirtschaftliche Verflechtung, Annäherung und einen kritischen Dialog können diesen Prozess beschleunigen.
Ich vermisse in diesem Kommentar einen Blick auf den wiedergewonnenen starken Einfluss der Orthodoxie auf die aktuelle Politik Putins, wie sie in seinen Reden zum Ausdruck kommt: Die Nation begründet sich im Glauben und in der Religion. Für einen ehemaligen KGB-Agenten eine eher seltsame Auffassung von Staatsideologie. Das wirkt sich vor allem bei den Themen Menschenrechte und Religionsfreiheit aus. Gemäß Patriarch Alexei II. (Januar 2002) macht sich jeder zum "Staatsfeind", der von der Orthodoxie zu einer anderen Kirche konvertiert. Moskau also immer noch ein "Drittes Rom", von Putin in diesem Anspruch unterstützt, damit die Orthodoxie sein autoritäres Verhalten absegnet?
Die russländische Führung sucht seit seit der Unabhängigkeit des Landes nach einem einigenden identitätsstiftenden Band. Putin vereint seine ethnisch-nationalistische Mission mit der traditionellen Rolle der Orthodoxen Kirche in der russländischen Geschichte. Dabei verbinden sich bei Putin eine instrumentelle strategische Absicht und seine persönlichen religiösen Überzeugungen.
Lieber Herr Prof. Mangott,Ich bin einer ihrer Kursteilnehmer in "Russian Politics". Ein Kommentar zu Tschetschenien: Ich sehe hinter dem Konflikt in Tschetschenien, abgesehen von den Terroranschlägen in Moskau vor dem zweiten Tschetschenienkrieg, auch den Kampf um die Ölressourcen im kaspischen Raum. Der Westen versucht ja speziell von dort aus das russische Pipelinenetz zu umgehen (Baku-Tiflis-Ceyhan-Pipeline, die nicht realisierte Nabucco-Pipeline). Außerdem verläuft eine Erdöl-Pipline von Baku nach Novorossijsk, welche von den Tschetschenen zeitweise blockiert wurde und so direkt russische Ölinteressen betroffen waren. War dies nicht ein Hauptgrund für Russlands Tschetschenien-Politik?
Unter dem Eindruck eines Interviews mit Georgi Arbatow in der neuesten Ausgabe der "Furche" (Nr. 42/2007), wonach nicht das Wettrüsten, sondern vielmehr die unermüdlichen Bemühungen der Friedensbewegung den "Kalten Krieg" beendet haben und wir jetzt dank der Politiken von Bush und Putin einem Atomkrieg immer näher kommen, möchte ich Prof. Mangott nun um einen rezenten Kommentar zu seiner Einschätzung der Lage ersuchen. Mit bestem Dank im Vorhinein.