Dieses Interview ist am 20.7.2011 auf www.derstandard.at erschienen:
der_standard: Im März 2012 finden in Russland Präsidentschaftswahlen statt. Bis jetzt weiß man nicht, ob Dmitri Medvedev sich um eine zweite Amtszeit bewerben oder Vladimir Putin erneut das Präsidentenamt antreten wird. Wie schätzen Sie das ein und wann glauben Sie, wird die Entscheidung der Öffentlichkeit bekannt gegeben?
Mangott: Die Entscheidung darüber ist sicher noch nicht gefallen. Putin und Medvedev, die seit 1991 zusammenarbeiten, haben bislang nur ausgeschlossen, gegeneinander anzutreten. Medvedev drängt aber zu einer raschen Entscheidung, während Putin darauf beharrt, damit zuzuwarten. Bei einer vorzeitigen öffentlichen Festlegung würde der auf den Antritt verzichtende Akteur abrupt seine Macht verlieren. Je später aber die Entscheidung getroffen wird, um so mehr werden sich die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern Putins und Medvedevs verschärfen.
der_standard: Wird die Entscheidung zwischen den beiden abgesprochen sein?
Mangott: Im März hat Medvedev angedeutet, selbst darüber zu entscheiden, ob er sich um ein weiteres Mandat bemühen wird. Das konnte damals als Ausdruck einer tatsächlich aggressiveren Strategie gegenüber dem Elitenkartell um Putin verstanden werden; oder aber als Bemühen Medvedevs, diesen Eindruck zu erwecken. Mittlerweile gilt wieder die frühere Sprachregelung, darüber gemeinsam zu entscheiden.
der_standard: Wie ist das Verhältnis zwischen den beiden heute? Inwiefern sprechen sich die beiden ab, inwiefern findet hier ein Machtkampf statt und worin besteht dieser Machtkampf?
Mangott: Das persönliche Verhältnis zwischen Medvedev und Putin ist auf Berechenbarkeit und Vertrauen gegründet. Allerdings war seit dem Amtsantritt Medvedevs 2008 immer zu erkennen gewesen, daß die Mitglieder der beiden Lager sich argwöhnisch beobachten und bisweilen aggressiv und öffentlich attackierten. Bislang aber sind deren Versuche, Putin und Medvedev in einen Machtkampf zu verstricken, mißlungen. Die heftigsten Auseinandersetzungen liefern sich dabei Finanzminister Kudrin und der Wirtschaftsberater Medvedevs Dvorkovic auf der einen, der stv. Ministerpräsident Secin und der stv. Leiter des Präsidialamtes Surkov auf der anderen Seite.
der_standard: Was würde eine Kluft zwischen den beiden für Russland bedeuten?
Mangott: Ein Bruch zwischen Putin und Medvedev würde die staatliche Bürokratie und das Elitenkartell, das Rußland regiert, spalten und erhebliche Verwerfungen auslösen. Davon wären auch die Regionen Rußlands betroffen. Auch wäre damit die Autorität der Zentralregierung gegenüber den Provinzen ausgehöhlt; der Verlust der Kontrolle über die regionalen Eliten wäre unvermeidbar. Das wollen Medvedev und Putin aber unbedingt vermeiden.
der_standard: Könnten nicht-linientreue Parteien unter Medvedev antreten?
Mangott: Medvedev will das Wahlrecht zur Staatsduma liberalisieren, um kleineren Parteien den Zugang zu erleichtern; Ende Juni hat er der Staatsduma eine Wahlrechtsnovelle zur Beratung vorgelegt. Die Änderungen sollen aber erst nach den anstehenden Wahlen im Dezember 2012 in Kraft treten. Der Vorsitzende der Staatduma Boris Gryzlov – ein enger Vertrauter Putins – hatte betont, die Zeit für die Annahme der Novelle bis zum Dezember wäre nicht ausreichend. Eben dieser Gryzlov hatte vor einigen Jahren noch gemeint, die Staatsduma sei ‚kein Ort für politische Debatten‘ und immer wieder für rasche Gesetzesbeschlüsse durch willfährige Abgeordnete gesorgt. Der Umstand, daß Gryzlov Medvedev ausrichtet, die Novelle könne erst durch die im Dezember gewählte Duma beschlossen werden, zeigt die begrenzte Autorität Medvedevs auf.
Allerdings scheut auch Medvedev vor radikalen Reformen des politischen Systems zurück. Die Entscheidung des Justizministeriums, die oppositionelle Bewegung ‚Partei der Volksfreiheit‘ (Parnas) nicht als politische Partei zu registrieren, zeigt aber deutlich, daß Medvedev nicht daran interessiert ist, eine radikale regimekritische Bewegung zuzulassen. Medvedev hält sich mit der rechtsliberalen Unternehmerpartei ‚Rechte Sache‘ (Pravoe Delo) eine berechenbare und loyale ‚Opposition‘.
der_standard: Angesprochen auf Medwedews Pläne zur Begrenzung der Rolle des Staates, zur Justizreform und zum Kampf gegen die Korruption sagte Putin kürzlich vor Journalisten in Paris, dass es zwischen den beiden keine Differenzen gebe und das man ein „gemeinsames Programm“ habe. Medvedev hat immer wieder erklärt, er wolle eine Modernisierung vorantreiben, Putin hingegen will die Erneuerung nicht überstürzt. Wie kann es da ein gemeinsames Programm geben und wo sind die gravierenden Unterschiede zwischen Putin und Medwedew?
Mangott: Inhaltliche Differenzen zwischen Putin und Medvedev sind in der Wirtschaftspolitik erkennbar. Medwedew hat 2009 in seinem programmatischen Artikel “Vorwärts Rußland” (Rossija, vperëd!) die Modernisierung Rußlands als Kernziel seiner Amtszeit benannt; Rußland könne ‚so nicht weitermachen‘ (tak žit‘ nel‘zja) – eine Losung, die auch Putin unterstützt. Während Putin damit aber bloß die ökonomische und technologische Entwicklung meint, drängt Medwedew auf einen viel umfassenderen Ansatz, der auch die individuelle Freiheit stärken, die Medien liberalisieren und die staatlichen Strukturen demokratisieren will. Darüber hinaus sind sich Putin und Medwedew nicht darüber einig, wer die Modernisierung vorantreiben soll. Während Putin dies einem effizienten und starken Staat anvertraut, will Medwedew dafür alle gesellschaftlichen Akteure mobilisieren. Medwedew weist auch immer wieder auf die Eigenverantwortung der Bürger hin. Die ‚paternalistische Haltung‘ der Bürger gelte es zu überwinden.
Das Umfeld Putins will die bestehenden Strukturen bewahren, die eigene politische und wirtschaftliche Macht absichern; sie unterstützt eine starke und autoritäre Führung des Landes und lehnt eine zu starke Annäherung an den Westen ab. Im Lager Medwedews dominieren liberale Technokraten, die strukturelle wirtschaftliche Reformen fordern, die staatliche Bürokratie schwächen und das Land demokratisieren wollen; ihnen ist die Zusammenarbeit mit der EU und der USA daher unabdingbar.
der_standard: Wie stark ist der Zuspruch für Putin, wie stark der für Medvedev in der Bevölkerung?
Mangott: Die Losung Putins, die ‚Wirren‘ (smuta) der Jelzin-Jahre durch eine konsolidierte, auf Stabilität setzende Staatsmacht zu beenden, wird in der Bevölkerung noch immer angenommen. Eine große Mehrheit der Bevölkerung traut Putin deutlich stärker als Medvedev zu, das Land zu führen. Die Zahl der Bürger, die Putin vertrauen ist noch immer höher als die Medvedevs; wobei die Werte – 46 Prozent für Putin und 37 Prozent für Medvedev – im vergangenen Jahr stabil geblieben sind. Es sind die gebildeten städtischen Mittelschichten, die mit deutlichem Überhang Medvedev unterstützen; auch wenn sie daran zweifeln, wie stark Reformwillen und -fähigkeit Medvedevs tatsächlich sind.
der_standard: Medvedev will neben wirtschaftlichen Reformen und der Reform der staatlichen Bürokratie auch das Land demokratisieren – Wie kommt die Forderung bei der Bevölkerung an?
Mangott: Medvedev kritisiert immer offener, daß die Betonung des Stabilitätsgedanken (stabilnost‘) die Gefahr berge, Stagnation hervorzurufen. Dies ist eine offene Kritik an Putin, der Stabilität zu einem zentralen Merkmal seiner Amtszeit erhoben hat und sich auch jetzt noch gegen ‚liberale Experimente‘ ausspricht. Die Forderung nach demokratischer Teilhabe wird aber nur in den gebildeten Mittelschichten urbaner Zentren unterstützt; und selbst diese Schicht ist nicht zu radikalen Forderungen bereit. Die deutliche Bevölkerungsmehrheit wünscht sich, Stabilität und stetige Wohlstandsmehrung. Ihnen scheint Putin weiterhin als besserer Garant für diesen Weg, auch wenn das Vertrauen in Putin, dies zu gewährleisten, abgesunken ist.
der_standard: Premier Putin hat die „Gesamtrussische Volksfront“ gegründet, eine Bewegung, über die Putin Gefolgsleute ohne Parteibuch bei der Parlamentswahl im Dezember antreten lassen und damit seiner Partei „Geeintes Russland“ zum Sieg verhelfen will. Steht hinter diese Organisation überhaupt eine Ideologie?
Mangott: ‚Geeintes Rußland‘ ist einer Staatspartei aus grauen Bürokraten und Funktionären ähnlich. Angesichts der sozialen Krise und der korrupten Arroganz vieler führender Vertreter dieses Machtkartells werden deutliche Stimmenverluste bei den Wahlen im Dezember trotz ‚kreativer Manipulationen‘ nicht zu verhindern sein. Zwar unterscheiden die Wähler zwischen Putin und ‚Geeintes Rußland‘ (deren Vorsitz Putin innehat, ohne deren Mitglied zu sein), aber eine geschwächte Staatspartei ist auch ein Kratzer am Führungsanspruch und der Führungsstärke Putins.
der_standard: Vladimir Putin wird am 3. Oktober in Berlin mit dem Quadriga-Preis, der seit 2003 jedes Jahr am Tag der Deutschen Einheit verliehen wird, ausgezeichnet. Erhalten hat er ihn „für die Vertiefung der deutsch-russischen Beziehungen, für seine Berechenbarkeit und sein Stehvermögen zuerkannt.“ Nach heftiger Kritik haben die Initiatoren jetzt bekannt gegeben, erneut über die Entscheidung zu beraten. Kritiker sehen in der Auszeichnung Putins ein falsches Signal zu einem bedenklichen Zeitpunkt. Verstehen Sie die Kritik?
Mangott: Die ‚Werkstatt Deutschland‘, die die Auszeichnung verleihen wird, will damit nach eigenem Bekunden ‚Entschlossenheit zum Notwendigen und die Motivation zum Möglichen‘ auszeichnen. Wenn also Führungsstärke ausgezeichnet werden soll, ist Putin ein adäquater Preisträger. Führungsstärke kann aber auch an einer Wertegrundlage gemessen werden; das Urteil des Kuratoriums wäre dann wohl deutlich zu korrigieren.
Foto: militaryphotos.net
Ein Preis, für den das Kuratorium sowohl den Türken Erdogan als auch den Afghanen Karsai für würdig erachtet hat, kann wohl auch für Putin nicht so unrichtig sein, selbst wenn Vaclav Havel droht, in diesem Fall die erhaltene Auszeichnung wieder zurückzugeben …