Russlands Führung hat bei den Wahlen zur Staatsduma eine ‚kontrollierte Wahlniederlage‘ zugelassen. Das Elitenkartell, das Russland beherrscht, konnte es sich nicht leisten, die Wahl zu stark zugunsten von “Geeintes Russland” zu fälschen. Eine berechenbare und moderate Niederlage war besser, als eine eklatante Fälschung der Ergebnisse. Stimmenverluste kann die Führung nun als Beleg für demokratische Wahlen und freien und fairen Wettbewerb ausgeben. Wären die Stimmenverluste der Staatspartei aber nur gering gewesen, hätte dies für die Bürger dokumentiert, daß die Wahlen eine groteske Inszenierung waren. Der Legitimitätsverlust für die Herrschenden wäre enorm gewesen.
Die Regierungspartei ‘Geeintes Russland’ (Edinaja Rossija) hat 14,8 Prozent an Wählerstimmen verloren. In absoluten Zahlen sind das immerhin 14,3 Millionen Wähler. Angesichts dokumentierter Verstöße bei der Wahlauszählung ist anzunehmen, daß der Verlust an Zustimmung noch höher ist, als die offiziellen Angaben ausweisen. Allerdings konnte ER eine absolute Sitzmehrheit in der Staatsduma mit 238 Mandaten erreichen. Die Wahlbeteiligung war mit 60,2 Prozent niedrig – um 3,6 Prozent geringer als 2007 –, sie ist aber nicht dramatisch gesunken; auch war die Beteiligung 1993 und 2003 noch deutlich niedriger gewesen. Die Zahl der ungültigen Stimmen blieb mit 0.95 Prozent niedrig. Dies ist deshalb erwähnenswert, weil Teile der liberalen Opposition (die ‚Nach-Nach Bewegung‘) die Bürger dazu aufgerufen hatten, an den Wahlen teilzunehmen, aber ungültig zu wählen.
Entscheidend aus der Sicht der Staatspartei aber: die Mehrheit der Wähler, die sich von der Staatspartei abgewandt haben, haben sich der ‚systemischen Opposition‘ zugewandt – den linksnationalistischen Kommunisten, den rechtsradikalen Liberaldemokraten und der sozialpopulistischen ‚Gerechtes Russland‘. Diese sind mit der Staatsmacht eng vernetzt und materiell und finanziell abhängig. Anhaltender Widerstand derer Abgeordneten gegen die Regierung ist daher ausgeschlossen.
Wie aber erklärt sich die deutliche Wahlniederlage von Geeintes Russland? 2007 hat die Regimepartei mit 64,3 Prozent ein außerordentlich starkes Ergebnis erzielt, weil Putin die Liste anführte, im Wahlkampf omnipräsent war, vor allem aber weil die Zufriedenheit mit der Regierung nach acht Jahren wirtschaftlichen Wachstums und stark steigender Reallöhne sehr hoch war. Durch die internationale Finanzkrise, die Russland ab dem Herbst 2008 erfaßte, aber sind die soziale Zuversicht und das Vertrauen in die Fähigkeiten und das Geschick der Regierung eingebrochen. Zwar hat Russland aufgrund enormer Hartwährungs- und Goldreserven und des 2004 eingerichteten Reservefonds aus Öl- und Gasexporteinnahmen extreme Auswirkungen abwehren können. Putin aber hat dennoch an Strahlkraft verloren und das Vertrauen in seine Fähigkeiten als Führer des Landes ist zurückgegangen. Auch wurde vielen Bürgern deutlich, wie anfällig die wirtschaftliche und soziale Stabilität des Landes ist, wenn Nachfrage und Preis für die russischen Exportwaren – Erdöl, Erdgas, Metalle – einbrechen.
Auch zeigt sich, Putin nicht mehr in der Lage ist, die Leute ähnlich stark zu mobilisieren wie früher. Die Marke Putin hat durch die mediale Überpräsenz gelitten. Die medialen Inszenierungen seiner Berater überzeugen nicht mehr; sie wirken immer häufiger peinlich.
Durch den vereinbarten Ämtertausch zwischen Putin und Medvedev haben beide an Ansehen verloren. Das Tandem war in der Lage gewesen, um moderate liberale (Medvedev) und konservativ-traditionalistische Wähler (Putin) zusammenzuführen und zu halten; durch den Ämtertausch aber, haben sowohl Putin als auch Medvedev an Kraft verloren, diese sozialen Milieus an sich zu binden.
Sodann beruhte die Zustimmung zu Putin vor allem darauf, daß in seiner Regierungszeit die soziale und wirtschaftliche Krise und die politische Instabilität der neunziger Jahre ein Ende fanden. Die jungen Wähler aber haben diese instabilen Jahre nicht bewußt miterlebt, Putins Stabilitätsangebot wirkt bei diesen nicht; es löst bei ihnen vielmehr Angst vor Stillstand aus.
In manchen Bereichen sind die Bürger über die Leistungen Putins enttäuscht. Das betrifft vor allem den Kampf gegen Korruption, die unter Putin noch schlimmer geworden ist. Die Wähler lasten Putin aber auch immer mehr sie starke soziale Ungleichheit an: die Einkommensunterschiede in Rußland sind enorm und weiten sich aus. es ist der Bevölkerung nicht zu erklären, warum es bei der Einkommensbesteuerung weiterhin eine flat tax on 13 Prozent gibt, gleichzeitig aber die Ausgaben für Gesundheit und Bildung im Staatshaushalt relativ sinken.
Die Auswirkungen der ‚kontrollierten Wahlniederlage‘ sind leicht zu verschmerzen: Der Verlust der Verfassungsmehrheit ist nicht allzu bedeutsam, da in Russland nur wenige Verfassungsgesetze beschlossen werden. Wichtiger aber, sollte eine Verfassungsmehrheit erforderlich werden, gibt es für die Führung genügend ‘Anreize’, um die notwendige Mehrheit in der Staatsduma zu erreichen. Während der ersten Präsidentschaft Putins (2000─2008) wurde kein einziges Verfassungsgesetz beschlossen oder gar die Verfassung geändert. Trotzdem konnte Putin sich eine außergewöhnliche Machtposition aufbauen. 1999 bis 2007 konnte sich Putin nicht einmal auf eine absolute Mehrheit der Abgeordneten in der Staatsduma stützen.
Die ‘relative Niederlage’ wird es Putin auch ermöglichen, in der Staatspartei Strukturreformen durchzusetzen und die Führungsfunktionen neu zu besetzen. Das ist gerade im Hinblick auf die Präsidentenwahlen im März 2012 unabdingbar. Putin’s Ansehen wird durch das graue, korrupte und bürokratische Erscheinungsbild des ‚Geeinten Russland‘ zu stark belastet.
Die Staatspartei wird eine dominierende Stellung behalten – nicht nur weil es eine gesicherte absolute Sitzmehrheit geben wird, sondern auch, weil zumindest die Abgeordneten der rechtsnationalistischen LDPR zumeist als sicherer Stimmenblock für das Regime gelten können. Entscheidend ist, daß die Wahlen eine zumindest ausreichende Legitimität für die ‚neue‘ Führung des Landes sicherstellen; das ist gelungen. Aber unbestritten ist, daß die Stabilität des Regimes sich verringert.
Photo: http://www.huffingtonpost.com/mobileweb/2011/12/05/russia-vladimir-putin-election-result_n_1128782.html
Danke fuer die hervorragende analyse, aber:
laesst sich der wahlbertug quantifizieren, wenn ja, wie? meine uebrigen fragen wurden uebrigens da beantwortet:
http://derstandard.at/1322872948433/Russland-Experte-Mangott-Offizielle-Ergebnisse-stimmen-mit-tatsaechlichen-nicht-ueberein
das lässt sich derzeit noch nicht sagen. grundsätzlich kann man aber davon ausgehen, dass fälschungen am wahltag 5-7 prozent verschieben können, aber nicht mehr.
5-7 Prozent sind keine Welt aber man wünscht sich doch, dass die Russen etwas mehr in Alternativen zu Putin und Co. wechseln würden. Das Arm Reich Gefälle bewegt sich auf einem so hohen Niveau, dass es unglaublich erscheint, dass dort noch kein Bürgerkrieg herrscht.