Putin 2.012

Die Proteste urbaner Mittelschichten in Russland kamen unerwartet. Die als unerschütterlich angesehene Herrschaft Vladimir Putins ist es nicht mehr; die Stabilität des Regimes hat sich sichtbar verringert. Der rasche Niedergang ist unwahrscheinlich, die fortschreitende Erosion aber unaufhaltsam.

Die Wahlen zur Staatsduma am 4. Dezember 2011 endeten mit unerwartet hohen Stimmenverlusten für die Staatspartei ‚Geeintes Russland‘ (minus 14,9 Prozent). Angesichts dokumentierter Verstöße bei der Wahlauszählung ist anzunehmen, dass der Verlust an Zustimmung noch höher ist, als die offiziellen Angaben ausweisen.

Das Elitenkartell, das Russland beherrscht, konnte es sich nicht leisten, die Wahl noch stärker zugunsten von “Geeintes Russland” zu fälschen. Eine gesteuerte und kontrollierte Niederlage erschien  letztlich besser als eine eklatante Fälschung der Ergebnisse. Stimmenverluste sollten als Beleg für demokratische Wahlen und freien und fairen Wettbewerb ausgeben werden. Wären die Verluste der Staatspartei nur gering gewesen, hätte dies für die Bürger dokumentiert, dass die Wahlen eine groteske Inszenierung waren. Der Legitimitätsverlust für die Herrschenden wäre enorm gewesen.

Immerhin konnte die Staatspartei trotz der Wahlniederlage eine dominierende Stellung behalten; nicht nur weil sie die absolute Sitzmehrheit halten konnte, sondern auch, weil zumindest die Abgeordneten der rechtsnationalistischen LDPR als sicherer Stimmenblock für das Regime gelten können. Überdies sind Bestechung, Druck und Einschüchterung seit 1993 bekannte und wiederholt genutzte Mittel, Abgeordnete zu erwünschtem Stimmverhalten zu drängen. Entscheidend war aber von Beginn an, dass die Wahlen eine zumindest ausreichende Legitimität für die ‚neue‘ Führung des Landes sicherstellen; Das sollte die kontrollierte Niederlage ermöglichen.

Zur Überraschung der derzeitigen Führung aber ist das Vorhaben nicht gelungen. In den urbanen Zentren des Landes, allen voran in Moskau, hat sich öffentlicher Protest gegen die – vielfach dokumentierten – Wahlfälschungen erhoben. Die Bürger, die sich resignativ oder gleichgültig aus dem öffentlichen Raum zurückgezogen, die autoritäre Führung angesichts steigender Reallöhne akzeptiert hatten, begehren nun auf. Die Demonstrationen in Moskau und anderen Städten des Landes fordern die Annullierung der Wahlen, die Absetzung der Leitung der Zentralen Wahlkommission, die Zulassung liberaler politischer Parteien und die Durchführung von Neuwahlen.

Vladimir Putin ist nicht mehr in der Lage, die Leute ähnlich stark zu mobilisieren wie früher. Die „Marke Putin“ hat durch die mediale Überpräsenz gelitten. Die medialen Inszenierungen seiner Berater überzeugen nicht mehr; sie wirken immer häufiger peinlich. Sodann beruhte die Zustimmung zu Putin vor allem darauf, dass in seiner Regierungszeit die soziale und wirtschaftliche Krise und die politische Instabilität der neunziger Jahre ein Ende fanden. Die jungen Wähler aber haben diese instabilen Jahre nicht bewusst miterlebt, Putins Stabilitätsangebot wirkt bei diesen nicht; es löst bei ihnen vielmehr Angst vor Stillstand aus. Die jüngeren städtischen Bürger mit höherer Bildung lassen sich durch die bisweilen groteske Selbstinszenierung der Führung nicht mehr beeindrucken.

In vielen Bereichen sind die Bürger über die Leistungen Putins enttäuscht. Das betrifft vor allem den Kampf gegen Korruption, die unter Putin noch schlimmer geworden ist. Die Wähler lasten Putin aber auch immer mehr die starke soziale Ungleichheit an: die Einkommensunterschiede in Russland sind enorm und weiten sich aus. es ist der Bevölkerung nicht zu erklären, warum es bei der Einkommensbesteuerung weiterhin eine flat tax von 13 Prozent gibt, gleichzeitig aber die Ausgaben für Gesundheit und Bildung im Staatshaushalt relativ sinken.

Der entscheidende auslösende Faktor für den Vertrauensverlust in die Führung war aber die Ankündigung Präsident Medvedevs vor wenigen Monaten, sich nicht um eine zweite Amtszeit als Präsident Russlands zu bemühen. Bestätigt sehen sich jene, die Medvedev immer als ‘technischen Präsidenten’ gesehen hatten, der das Amt gleichsam nur kommissarisch übernommen habe, weil Putin eine dritte konsekutive Amtszeit verfassungsrechtlich untersagt war. Enttäuscht sind jene, die für möglich hielten, dass sich Medvedev im Amt von seinem Mentor emanzipieren und eine weitere Amtszeit anstreben würde.

Medvedev und Putin erklärten zunächst auch nicht, weshalb dieser Ämtertausch beschlossen wurde. Erst nach starker Kritik an ausbleibenden Begründungen erklärte Medvedev in einem Interview, Putin habe höheres öffentliches Ansehen und die höchste politische Autorität in Russland. Tatsächlich aber sind die Zustimmungswerte für Putin nicht deutlich höher als die Medvedevs.

Der eigentliche Beweggrund für Putin aber ist wohl, dass Dmitri Medvedev daran gescheitert ist, die verschiedenen, auch widerstreitenden Fraktionen der russischen Elite zusammenzuhalten. Es ist ihm nicht gelungen, eine belastbare Autorität zu entwickeln, seine Modernisierungsagenda drohte das bisherige Elitenkartell zu spalten. Putin musste erkennen, dass das Regime massiv an Stabilität verliert, wenn Medvedev weiter regiert. Aus seiner Sicht blieb nur die Rückkehr ins Präsidentenamt.

Die Reputation Medvedevs ist nun stark erschüttert; viele sehen ihn nunmehr als eine schwache und rückgratlose Persönlichkeit. Dies wird seine Autorität als Vorsitzender der Regierung, die er nach Putins Wahl zum Staatspräsidenten anführen soll, nachhaltig aushöhlen. Aber auch Putins Ansehen ist deutlich gesunken. Die Führungsrochade ist in den Augen der Bürger eine Charade, die beide diskreditiert. Zwar war das Tandem durchaus wirksam gewesen, um moderate liberale (Medvedev) und konservativ-traditionalistische Wähler (Putin) zusammenzuführen und zu halten; durch den Ämtertausch aber haben sowohl Putin als auch Medvedev an Kraft verloren, diese sozialen Milieus an sich zu binden.

Putin und Medvedev betonten, die Entscheidung über die Kandidatur bei den Präsidentenwahlen sei ‘wohl durchdacht’ und bereits vor Jahren erfolgt. Wenn dies tatsächlich der Fall war, war es sehr ungeschickt, dies offen zu bestätigen; diejenigen, die auf die Reformschritte Medvedevs gesetzt hatten, fühlen sich getäuscht und betrogen.

Der soziale Aufruhr gegen das herrschende Kartell ist politisch aber sehr heterogen. Natürlich sind es viele sozial- und wirtschaftsliberale Aktivisten, aber es sind auch sozialistische, kommunistische, monarchistische und sogar rechtsextreme Demonstranten. Die Abneigung gegen das herrschende Establishment vermag die disparate politische Opposition in Russland zu einen. Es ist ein negativer Konsens. Auf ein gemeinsames Gegenprogramm aber konnte sich die Opposition bislang nicht einigen. Es wundert daher nicht, dass Ihnen eine anerkannte gemeinsame Führungsfigur fehlt. Die rechtsliberalen Vertreter, die Russland in der Jelzin-Ära regiert hatten (wie Boris Nemcov, Vladimir Ryžkov oder auch Michail Kasjanov), sind diskreditiert. Der alternde und egozentrische linksliberale Grigorij Javlinskij wiederum kann die junge Protestbewegung nicht begeistern.

Die Helden der Demonstranten sind der Jurist Aleksej Navalnyj und Ilja Jašin. Vor allem der charismatische Navalnyj wurde zur Ikone des jugendlichen Aufbegehrens. Im Februar 2011 hat Navalnyj die Bezeichnung ‘Partei der Diebe und Schwindler’ (Partija žulikov i vorov) für die Staatspartei ‘Geeintes Russland’ geprägt. Diese Losung wurde gleichsam zum inhaltlichen Referenzpunkt zahlreicher dissidenter Strömungen und Bewegungen. Bemerkenswert an Navalnyj ist, dass er nicht nur gegen die Korruption in der staatlichen Bürokratie, die politische Gängelung und gegen Geeintes Russland und Putin agitiert. Navalnyj zählt darüber hinaus nämlich auch zu den charismatischen Führern der russisch-nationalistischen Bewegung in Russland. Er hat mehrfach am ‘Russischen Marsch’ am 4. November – dem ‘Tag der Volkseinheit’ – teilgenommen; 2011 war er sogar im Organisationskomitee dieser Proteste. Navalnyj ist ein rücksichtloser Kritiker der herrschenden Kaste; wie stark er aber in demokratischen Werten verankert ist, ist unklar.

Auch wenn der Protest der Bürger abflauen sollte, wurde die Ausgangslage für die Präsidentenwahlen am 4. März 2012 deutlich verändert: Das Regime wird den Zugang oppositioneller Kandidaten zu den elektronischen Medien offener gestalten und die Wahlen selbst transparenter durchführen müssen. Aus derzeitiger Sicht ist Putins erneute Wahl zum Präsidenten nicht gefährdet; zumindest in einem möglichen zweiten Wahlgang wird er die nötige Mehrheit bekommen. Es ist nämlich auszuschließen, dass sich die Gegner Putins in einem 2. Wahlgang hinter den Herausforderer scharen werden. Dies gilt besonders dann, wenn der Führer der Kommunisten Gennadij Zjuganov in die Stichwahl gegen Putin gelangen sollte.

Außerdem kann sich Putin ─ anders als die Partei ‚Geeintes Russland‘, die Putin anführt ─, noch immer auf hohe, wenn auch rückläufige Zustimmungswerte stützen. Der Rückhalt ist besonders stark bei den weniger gebildeten Schichten, bei mittleren bis älteren Personen, in Kleinstädten und auf dem Land. Das eigentliche Risiko für Putin ist, dass er plötzlich nicht mehr unberührbar ist. Seine Strahlkraft ist verloren gegangen; seine Selbstdarstellung, die ja auch über viele Jahre gültig war, nahezu von der gesamten Bevölkerung Russlands unterstützt zu werden, überzeugt nicht mehr. Wenn ein Präsident nicht über genügend Legitimität verfügt, wird es ihm auch schwerfallen, die wirtschaftlichen und finanziellen Reformen voranzutreiben, die unabdingbar sind, um Russland zu modernisieren. Dazu fehlt dann ein explizites Mandat und der angeschlagene Zar wird alles unterlassen, was seine Autorität und seine Beliebtheit weiter mindern könnte.

Wenn Putin erneut Präsident Russlands sein wird, wird er einen liberalen Reformer zum Vorsitzenden der Regierung ernennen. Putin und seine Berater wissen, dass die in Unruhe versetzte Mittelschicht zumindest in dieser Funktion eine Person verlangt, die deren Interessen berücksichtigt. Überdies wäre eine liberale Regierung auch hilfreich, die Kontakte zu den Staaten zu erleichtern, deren politische Führungen Putin distanziert gegenüberstehen.

Es ist trotz gegenteiliger Zusagen aber nicht sicher, dass dies Dmitri Medvedev sein wird. Der frühere Finanzminister Kudrin wäre eine ideale Besetzung für dieses Amt. Allerdings stellt er als Bedingungen die Kürzung der Verteidigungsausgaben und eine Anhebung des gesetzlichen Pensionsalters. Das allerdings wird Putin vor ein Dilemma stellen: Ausgabenkürzungen in 2012 sind für das angeschlagene Regime gefährlich. Zugleich aber drohen Einnahmenrückgänge, wenn die wirtschaftliche Rezession in der EU tatsächlich massiv und anhaltend sein sollte.

In das soziale Gefüge Russlands ist Bewegung gekommen. Die starre Stabilität löst sich auf. Wenn der neue Präsident Putin darauf nicht behutsam reagiert, werden die jungen, gebildeten städtischen Russen das Land verlassen.

 

Dieser Artikel erschien unter dem Titel ‘Zarendämmerung‘ am 31.12.2011 in der Tageszeitung ‘Wiener Zeitung’.

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15 thoughts on “Putin 2.012”

  1. Ich habe ein wenig über Ilja Jašin recherchiert und er wäre, laut den Infos, die ich fand, wohl viel intergerer als Naval´ny. Wie gut stehen seine Chancen, trotz seiner Jugend, etwas zu bewegen?

  2. Dieser Artikel ist sehr interessant – ich wuerde ihn auch ins Englische uebersetzen und in einer englischen Tageszeitung veroeffentlichen, da solche Analyse in der englischen/amerikanischen Presse schwer zu finden sind.
    Ich fragte mich, ob Kudrin immer noch beliebt ist. Viele behaupten, dass er der Architekt des russischen wirtschaftlichen Aufschwungs 2000-2008 war, und deswegen sollte er beliebt sein. Trotzdem wurde er in einer der Demonstrationen im Dezember ausgepfiffen, als er versuchte zu sprechen.

  3. @2: Kudrin gilt als guter Freund Putins. Da sich die Demos der frustrierten städtischen Mittelklasse im Dezember vorwiegend gegen Putin als autoritäre Person richteten, scheint er bei seinem Versuch zu reden, deshalb auch etwas von diesem Unmut abbekommen zu haben. Trotzdem sind Kudrins Chancen, nächster Ministerpräsident unter einem neuerlich gewählten Präsidenten Putin zu werden, intakt, denn er ist derzeit der beste wirtschaftspolitische Experte in der RF (Putin wäre in der jetzigen Lage auf seine Expertise unbedingt angewiesen), während Medwedews Popularität in den Städten noch wesentlich stärker im Sinken ist als jene Putins, der vor allem in der Provinz und bei den unteren Gesellschaftsschichten, deren Sprache er aufgrund seiner Sozialisierung versteht und auch selbst zu sprechen in der Lage ist, punkten kann. Auf diesen “Gleichklang der Wahrnehmung” wird es aber bei der Vertrauensfrage zuletzt ankommen …

  4. Sprachliche Auswüchse sind, meiner Ansicht nach, nicht allein Ausdruck von Sozialisation, sondern vielmehr auch des Charakters…

  5. @4: Charakterlich “einwandfreie” PolitikerInnen werden Sie äußerst wenige finden – nicht nur hier bei uns in Österreich. Ergiebig wären diesbezügliche individualpsychologische Untersuchungen, die aber aus verständlichen Gründen nicht angestellt werden. Wer sollte sie bei wem auch machen?

  6. Wollte nur Ihrer “Sozialisationsthese” widersprechen. Es ist keine Schande, nicht der “mittleren Oberschicht” zu entstammen.

  7. @6: Ich schäme mich dessen auch nicht. Und Wladimir Putin tut dies vermutlich ebenso wenig …

  8. @ Marco Siddi: Glad to hear that you like this text. I do not find time these days, do translate it into English. I’ve got so much bureaucratic stuff to do at the University. 🙁

  9. … und wenn dann irgendwas aus irgendwelchen Gründen nicht angerechnet wird, sind wir den Tränen nahe Herr Mangott!

  10. @11: Sie sind zu emotional! Sie müssten eher analytisch denken, auch und gerade in der Politikwissenschaft …

  11. Ach Herr Heiden, wie gut, dass ich keine Politologin geworden bin, obwohl ichs kurz mal wollte…
    Bin auf ganz anderer Fakultät zuhause…

  12. Ein wenig schmunzeln muss ich über die Tatsache, Herr Heiden, wie wichtig Ihnen die Verteidigung des Handelns von Gerhard Mangott ist…
    Ich hatte vorhin ja gar nicht Sie adressiert.

  13. Für mich ist die Korruption der Eliten ein demokratiehemmender Faktor in Russland.
    Der russische Rechnungshof ist am Gängelband der “Geldeliten”, wie ist es sonst möglich, dass ein relativ großer (politischer) Personenkreis ein riesiges Vermögen in Euroa und Steueroasen völlig ungehindert anhäufen konnte und weiter anhäuft.
    Eine sog. “Vermögensdeckungsrechnung” bei diesen “Eliten” würde Klarheit und natürlich große Unruhe bringen. Vielleicht will man es deshalb nicht?
    Putin selbst soll ja ,lt. div. Medien, zig-Millionen in der Schweiz gebunkert haben, dieses Vermögen, sollten die Zahlen einigermaßen stimmen, kann unmöglich von seinem Präsidentenamt stammen. Diesfalls könnte die vorhin erwähnte “Vermögensdeckungsrechnung” Licht ins Dunkle bringen, aber wer will das wirklich?

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