1. Die russische Führung sendet ambivalente Signale, wie sie mit den Bürgerprotesten umgehen will. Repressiven Aktionen (Verschärfung des Demonstrationsrechtes, das Gesetz über NGO’s als ‚ausländische Agenten‘, das novellierte Verleumdungsgesetz, Verhaftungen, Hausdurchsuchungen) stehen moderate politische Reformen (Parteiengesetz, Regionalwahländerungen) und die Bereitschaft gegenüber, friedliche Demonstrationen zu dulden.
2. Die Bürgerproteste dauern an, die Zahl der Demonstrationsteilnehmer ist wieder angestiegen; der Rückgang der Teilnehmerzahlen im März war offensichtlich nur vorübergehend. Es bleibt aber weiterhin eine sozial (Mittelschicht) und regional (große Städte) fokussierte Protestbewegung.
3. Die Protestbewegung ist weiterhin inhaltlich diffus und ideologisch widersprüchlich. Auch fehlt ihr eine klare und akzeptierte koordinierende Struktur und/oder Führungspersönlichkeit(en).
4. Die Regierung scheint auf die weitere Fragmentierung der Protestbewegung zu setzen (wozu das hyperliberale Parteiengesetz beigetragen hat) und versucht, Führungsfiguren zu diskreditieren und inhaltliche Differenzen zwischen diesen zu provozieren.
5. Die führenden Aktivisten der Proteste (Navalnyj, Jašin, Nemcov, Udalcov) sind inhaltlich wenig überzeugend, bisweilen kaum berechenbar und extremistisch (Navalnyj, Udalcov). Aus dieser Bewegung ist derzeit noch keine alternative Führungsfigur zu V. Putin erkennbar.
6. Innerhalb der Führung verschärfen sich nach mehreren Anzeichen Auseinandersetzungen über die Strategie gegenüber der Protestbewegung. Dabei wird die Bruchlinie zwischen den technokratischen ökonomischen Liberalen und den Vertretern der Sicherheitsdienste (siloviki) deutlich.
7. Als zentrale Gefahr wird von der Führung die Verschmelzung der politischen Proteste mit möglichen sozialen Protesten als Ergebnis einer wahrscheinlicher werdenden wirtschaftlichen Rezession als Ergebnis externer Schocks gesehen.
8. Möglich ist auch eine Radikalisierung der nationalistischen und/oder der marxistischen Elemente der Proteste. Das würde aber ziemlich sicher zu einem Auseinanderbrechen der Bürgerbewegung führen.
9. Bei einer Zuspitzung der Proteste ist derzeit ein repressiveres Vorgehen der Führung wahrscheinlicher als weitere Reformschritte. Allerdings ist nach Ansicht des Autors das Risiko hoch, dass ein repressiver Kurs gegen soziale-politische Proteste, die Lage eskalieren wird. Dabei ist aber nicht mit einem graduellen Übergang, sondern mit Verwerfungen und Erschütterungen zu rechnen.
10. Die Sorge der derzeit noch inaktiven Mittelschichten vor einer solchen ‚revolutionären Situation‘ ist für die Regierung, die als zentrale Werte ‚Stabilität‘ und ‚Regierbarkeit‘ postuliert, bis jetzt zumindest noch eine Rückversicherung gegen das ‚Aufruhrszenario‘.
Foto: http://www.washingtonpost.com/world/young-russian-protesters-want-change-but-lack-a-leader/2011/12/19/gIQAGbpc4O_story.html
Diese 10 Thesen scheinen mir etwas zu stark vom Blickwinkel der Führung (Regierung) aus gesehen. Auch vermisse ich eine These zur Rolle der (russisch-orthodoxen) Kirche und der Achse zwischen ihr und der politischen Führung, die in letzter Zeit auch aktiv seitens Putins zum Patriarchen (mit welchem Zweck?) geschmiedet wurde.
Prof. Mangott betitelt seine Vorlesung im kommenden Wintersemester auf der Uni Ibk mit “Putins Russland”.
“DER SPIEGEL” titelt in der 33. Kalenderwoche 2012 “Putins Russland: Auf dem Weg in die lupenreine Diktatur”.
Ich bin jetzt schon gespannt, ob Prof. Mangott Russland auf demselben Weg sieht ….
Bisher (1.Tag der Inskriptionsmöglichkeit) sind 18 weitere KommilitonInnen ebenso gespannt wie ich ….
Einen Tag später sind es bereits doppelt soviele Anmeldungen! Das Interesse an Prof. Mangotts Ausführungen ist offensichtlich enorm!
Hinsichtlich der Protestbewegung in der RF schreibt Mag. Carola Schneider, seit kurzem neue ORF-Korrespondentin in Moskau, in dem unlängst erschienenen Buch “Mit eigenen Augen”:
“Die gesellschaftliche und politische Kluft zwischen den russischen Metropolen und der Provinz ist riesig und klafft immer weiter auseinander. In Moskau und St. Petersburg, wo sich in den letzten Jahren eine städtische Mittelschicht gebildet hat, die sich über soziale Netzwerke im Internet organisiert, oft eine eigene Wohnung und regelmäßige Urlaube im Ausland leisten kann, haben die Menschen genug vom politischen Stillstand, der grassierenden Korruption und der dauernden Bevormundung durch undurchsichtige Behörden. Rund 100 der 140 Millionen Russen leben aber auf dem Land, teilweise in bitterer Armut und beziehen ihre Informationen aus den vom Kreml kontrollierten Fernsehkanälen. Dazu kommt, dass viele Russen in vom Staat abhängigen Betrieben oder Behörden arbeiten, sei es in Staatsunternehmen, Spitälern, der Armee oder der Polizei, was allzu heftige Kritik am politischen Regime ausschließt. Zudem wollen viele Russen, vor allem auf dem Land, einen starken Mann an der Spitze Russlands sehen. Wladimir Putin erscheint ihnen geeignet, der ehemalige KGB-Chef, der das größte Land der Welt nach den chaotischen Jahren unter Boris Jelzin wieder zu einem ernst genommenen Machtfaktor auf der Weltbühne gemacht und für wirtschaftliche und politische Stabilität gesorgt hat. Und so hat Putin bei den Präsidentschaftswahlen im März denn auch gesiegt. ….
Nicht gewählt wurde Putin allerdings in Moskau, dort erhielt er trotz aller Manipulationen nicht einmal die Hälfte der Stimmen. Russlands starker Mann, der sich unter Tränen am Wahlabend von seinen Anhängern feiern ließ, hat die Unterstützung seiner Hauptstadt verloren. Was in den Augen vieler politischer Beobachter der Anfang vom Ende seiner politischen Ära bedeuten könnte, denn wie kann ein Präsident langfristig ein Land führen ohne die Bevölkerung der Hauptstadt, die in der Regel die am besten ausgebildete, mobilste und kreativste ist? ….
Tatsächlich holt Wladimir Putin wenige Monate nach seiner Wiederwahl als Präsident zum Gegenschlag gegen die Opposition und die neu erwachte, kritische Bürgergesellschaft aus. Er hat verstanden, dass der bisherige langjährige und ungeschriebene ‘Vertrag’ zwischen der Bevölkerung und seinem Regime nicht mehr gilt. Dieser hat vorgesehen, dass die Bevölkerung relative Freiheiten genießen darf, wie freies Internet, Reisefreiheit und, wer will und kann, auch ungezügelten Konsum, doch im Gegenzug hält sie sich aus der Politik heraus. Das hat sich zuletzt schlagartig verändert. Nun wollen viele Russen mehr, sie fordern faire Wahlen, einen Rechtstaat, politische Freiheit und ein Ende des Korruptionssumpfes, der ihnen das Leben schwer macht. Und sie fürchten sich nicht mehr vor den mächtigen Sicherheitsbehörden, sie gehen trotzdem auf die Straße, sind bereit, sich schlagen und festnehmen zu lassen. Diese neue Zivilgesellschaft will Putin knebeln und einschüchtern.”
Und auseinanderdividieren (“divide et impera”), wie Prof. Mangott in seinen 10 Thesen zum Widerstand in diesem Blog u.a. aufzeigt.