Russlands Haltung in der Syrienkrise

Russland hat in der Syrien-Krise die Initiative an sich gezogen.  Der russische Vorschlag, die syrischen Waffen unter internationale Kontrolle zu stellen,  hat die strategische Lage im Nahen Osten radikal und abrupt verändert. Angesichts des drohenden militärischen Angriffs der USA gegen Syrien, der entgegen den Beteuerungen durch die Zerstörung von Landebahnen und schwerer Artillerie die Lage im syrischen Bürgerkrieg zugunsten der Aufständischen verschoben hätte, hat Russland eine strategische Neubewertung vorgenommen. Den Militärschlag zu verhindern und die Lage im Bürgerkrieg stabil zu halten, erschien wichtiger, als der weitere Zugriff Syriens auf sein chemisches Waffenarsenal. Dieses Kalkül ebnete den Weg zum Genfer Rahmenabkommen vom 14. September 2013 über die vollständige Übergabe und Vernichtung der syrischen Chemiewaffen unter internationaler Kontrolle.

Das syrische Regime hat diese strategische Neubewertung durch Russland (vorerst) akzeptiert. Syrien verzichtet auf chemische Waffen, die – ohne die sichere militärische Intervention der USA zu riskieren – ohnehin nicht mehr eingesetzt hätten werden können. Dennoch bedeutet dies nicht, dass die syrische Führung nicht doch versuchen wird, gewisse Bestände an chemischen Waffen zu behalten und vor den Inspektoren zu verstecken. Das chemische Arsenal der syrischen Streitkräfte war nämlich nicht für die Nutzung in einem Bürgerkrieg gedacht, sondern als Abschreckung gegenüber am atomar bewaffneten Israel.

Auch wenn die russische Initiative mit den USA verabredet gewesen war, ist es damit ausschließlich Russland gelungen, sich als Staat darzustellen, der im Rahmen des internationalen Rechts versucht, die drohende militärische Eskalation in Syrien zu verhindern. Zwar hilft die Initiative Obama zumindest vorerst, einen militärischen Angriff, den zu führen er ohnehin wenig geneigt war, zu vermeiden  und zugleich einer Abstimmungsniederlage im Kongress zu entgehen; aber es haftet Obama nun das Image eines zögerlichen, unentschlossenen Präsidenten an, der die Krise um den Chemiewaffeneinsatz in Syrien nicht lösen konnte. Auch die Glaubwürdigkeit der Außenpolitik der USA im Nahen Osten hat deutlich abgenommen.

Derzeit ist allerdings noch nicht sicher, ob sich Russland und die anderen ständigen Mitglieder der VN auf einen Resolutionstext einigen können, in dem die Bedingungen der Abrüstung und die Konsequenzen festgelegt werden, die von der syrischen Führung zu gewärtigen sind, wenn sie gegen diese Auflagen verstößt. Frankreich, Britannien und die USA drängen auf “ernsthafte Konsequenzen”, worunter ein Militärschlag zu verstehen ist. Russland ist entschieden dagegen und wird keine Resolution akzeptieren, die einen militärischen Angriff auf das syrische Regime erlauben wird. Sollte die syrische Führung die Abrüstungsauflagen nicht oder nicht völlig erfüllen, soll sich nach russischer Ansicht der Sicherheitsrat erneut damit befassen; Russland will aber auch für diesen Fall vorab keine militärischen Zwangsmaßnahmen erwägen.

Vor dem Beschluß einer Resolution sollen ohnehin die Experten der Organisation für das Verbot Chemischer Waffen in Den Haag Vorschläge für die technische Durchführung der Abrüstung vorlegen.

Die russische Führung verfolgt im syrischen Bürgerkrieg vitale Interessen. Dazu zählen aber weder die logistische Marinebasis in Tartus noch die Rüstungsverkäufe an das syrische Regime. Zu Bashar al-Assad gibt es auch keine persönlichen Bande. Außenminister Lavrov sagte dem Autor: „Wir brauchen diesen Mann nicht.“

Die zentralen Gründe für die Haltung Russlands in der Syrienkrise sind andere: Zunächst hält Russland an der traditionell verstandenen Souveränität der Staaten fest. Die Einmischung in innerstaatliche Angelegenheiten wird entschieden abgelehnt. Dies gilt umso mehr für gewaltsam herbeigeführte Regimewechsel. Diese lehnt Russland auch dann ab, wenn ein Staat massive Menschenrechtsverletzungen begeht. Humanitäre Interventionen mit dem Ziel, die Regierung eines Landes zu stürzen weist die russische Führung kategorisch zurück.

Die russische Unterstützung für das syrische Regime ist auch darin gegründet,  in der starken regionalen Rivalität zwischen dem sunnitischen und dem schiitischen Islam einen hegemonialen Status des radikal-sunnitischen Islams zu verhindern.  Russland will die schiitische Achse aus Iran und Irak und dem allawitischen Syrien nicht geschwächt sehen.

Darüber hinaus erwartet Russland, dass nach dem Sturz Assads radikal-islamistische Kräfte in den Reihen der Rebellen die Regierung dominieren werden.  Von einer solchen, von Saudi Arabien kontrollierte, Regierung könnte eine islamistische Destabilisierung des muslimischen russischen Nordkaukasus ausgehen.

Russland zielt daher neben der Zerstörung des chemischen Arsenals Syriens auf die Einberufung der Genf-II Konferenz ab, auf die sich Russland und die USA im Mai 2013 grundsätzlich geeinigt haben. Auf der Konferenz sollen sich die Konfliktparteien auf eine Übergangsregierung einigen. Allerdings konnten sich beide Staaten noch nicht darauf verständigen, welche Staaten aus der Region an dieser Konferenz teilnehmen sollen. Russland besteht darauf, Iran in die Gespräche miteinzubeziehen; die USA lehnen das ausdrücklich ab. Russland verlangt außerdem Verhandlungen ohne Vorbedingungen, d.h. ohne den vorherigen Rücktritt al-Assads. Darauf aber beharren die meisten der Rebellenfraktionen.

Der Durchbruch, der mit der Einigung von Genf über die chemische Abrüstung erzielt wurde, ist daher nur ein vorläufiger. Noch ist nicht einmal klar, dass sich der Sicherheitsrat auf eine diesbezügliche Resolution wird einigen können. Unklar ist weiterhin, wie für die Waffenexperten die militärische Sicherheit bereit gestellt werden kann, Abtransport und Zerstörung der chemischen Arsenale durchzuführen. Keineswegs sicher ist auch, ob die syrische Führung tatsächlich bereit sein wird, auf alle chemischen Waffen zu verzichten.

Aber selbst wenn dies alles gelingen sollte, wird damit nur die chemische Kriegsführung unterbunden; der Konflikt in Syrien aber bleibt weiterhin ungelöst.

Dieser Text ist am 23.9.2013 in der Tiroler Tageszeitung unter dem Titel “Russlands Mutmaßungen” erschienen.

 

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