„Ich habe auf diesen Punkt gezeigt und jetzt ist hier Olympia“. Diese Aussage Vladimir Putins lässt keinen Zweifel daran, wie sehr die Olympischen Spiele in Sotschi dem Ehrgeiz des Präsidenten Russlands zuzuschreiben sind. Bedenken gegen den Austragungsort, ökologische Belange und Zweifel an der Nachhaltigkeit in der Nutzung der sportlichen Anlagen wurden beiseite geschoben, galt es doch das Ansehen Russlands und das seines Präsidenten zu stärken.
Die ausländische mediale Kritik aber ist immens und trägt nicht dazu bei, das Ansehen Russlands zu heben. Die Kritik richtet sich zunächst gegen die Kosten des Projektes. Russlands Führung erklärt, die Errichtung der Infrastruktur und der Sportstätten hätte nicht mehr als 8,75 Milliarden Euro gekostet. Tatsächlich aber dürften die Kosten bei mehr als 30 Mrd. Euro liegen. Das hängt mit dem Umstand zusammen, dass alle Anlagen und die Infrastruktur neu errichtet werden mussten, aber auch mit der Veruntreuung von Geldern durch Bauträger. Zu denen, die damit ihren Reichtum mehren konnten, zählen auch enge Freunde Putins. Kritik wird auch an den ökologischen und sozialen Folgen der Bauprojekte geübt. Naturschutzgebiete wurden umgewidmet, Hauseigentümer enteignet, ohne ihnen adäquate Ersatzunterkünfte bereit zu stellen.
Im Zentrum ausländischer Kritik aber stehen die autoritäre Herrschaftsordnung und die Verletzung von Bürger- und Menschenrechten in Russland. Tatsächlich hat Putin durch repressive Gesetze, behördliche Willkür und politisch abhängige Gerichte versucht, die Proteste der gebildeten, besser verdienenden und jungen städtischen Bürger gegen massive Wahlfälschungen zu brechen. Politische Anführer stehen unter Hausarrest oder vor Gericht. NGOs, die politisch aktiv sind und Gelder aus dem Ausland erhalten, müssen sich seit 2012 als „ausländische Agenten“ bezeichnen. Darüber hinaus hat Wladimir Putin erfolgreich versucht, die wertkonservativen ländlichen und kleinstädtischen Bürger kulturell gegen die libertären Städter zu mobilisieren. Putin versteht Russland als sozial konservatives, christliches und traditionalistisches Bollwerk gegen angeblich dekadente westliche Werte. Zu dieser konservativen Wende zählt auch das Gesetz, das die Rechte homosexueller Bürger beschneidet. Seit Juni 2013 ist es verboten, in Anwesenheit von Minderjährigen homosexuelles Verhalten zu zeigen oder dafür zu werben.
Dieses umstrittene Gesetz wird im Ausland massiv kritisiert und als Anlass für Aufrufe verwendet, die Eröffnungszeremonie der Olympischen Spiele zu boykottieren. Zwar hat Russland zugesagt, homosexuelle Athleten in Sotschi nicht zu diskriminieren, verteidigt aber das Gesetz an sich.
Die Präsidenten Deutschlands und Frankreichs, Gauck und Hollande, der britische Premierminister Cameron und andere haben ihre Teilnahme an der Eröffnungszeremonie abgesagt. Zwar haben diese das offiziell nicht mit der Menschenrechtslage in Russland begründet, dennoch aber sind die Aussagen als Kritik an den autoritären Verhältnissen in Russland zu verstehen. Ist ein solches Verhalten aber angemessen? Wohl kaum. Zunächst bieten sich den Regierungen westlicher Staaten andere Foren, um Kritik an der Menschenrechtslage in Russland vorzubringen. In zahlreichen bi- und multilateralen Begegnungen kann die russische Führung wegen ihrer autoritären Herrschaftsstrukturen kritisiert werden. Zudem wird der Boykott der Eröffnungszeremonie an den Menschenrechtsverletzungen in Russland nichts ändern. Druck auf Russland über die Olympischen Spiele auszuüben, verhärtet die russische Position und ist konfrontativ. Darüber hinaus ist die große Mehrheit der russischen Bevölkerung zu Recht stolz auf die Austragung der Olympischen Spiele. Ein Boykott würde auch als Respektlosigkeit gegenüber der russischen Bevölkerung verstanden werden. Viele jener, die die Olympischen Spiele boykottieren, bedienen damit vor allem die Heimatfront. Ihnen ist mehr daran gelegen, den eigenen Bürgern zu gefallen, als Druck auf die russische Führung auszuüben.
Es hängt aber noch ein anderer Schatten über den Olympischen Spielen in Sotschi – die Angst vor einem Attentat durch islamistische Rebellen aus dem nördlichen Kaukasus. Der Anführer der Islamisten, Doku Umarov, hat offen damit gedroht, Anschläge gegen die „satanischen Spiele“ in Sotschi zu verüben. Die Olympischen Spiele würden „auf den Gebeinen unserer Vorfahren“ stattfinden meint der selbsternannte Emir des Kaukasus. Umarov verweist dabei auf die im 19. Jahrhundert von zaristischen Truppen gewaltsam vertriebenen Tscherkessen. Die Bombenanschläge in Volgograd im Dezember 2013 haben Fähigkeit und Willen der Islamisten zu terroristischen Gewalttaten unterstrichen. Nährboden der radikalen Islamisten sind die ungelösten sozialen und religiösen Konflikte im Kaukasus. Russland ist es nicht gelungen, den Zustrom zu den Islamisten durch wirtschaftliche Modernisierung, Bekämpfung der Korruption und Stärkung der Rechtsstaatlichkeit zu brechen. Die Härte mit der die russischen Sicherheitsbehörden gegen angebliche oder tatsächliche Islamisten und deren Familien vorgehen, sorgt bei den terroristischen Gewalttätern für immer neuen Zulauf. Junge Männer ohne zivile Lebensperspektive verdingen sich als Söldner in den Reihen der Terroristen.
Sotschi ist derzeit der sicherste Ort in Russland. Die russische Führung hat alles getan, um die Sicherheit der Olympischen Spielen zu garantieren. Dennoch bleibt ein Restrisiko terroristischer Anschläge. Höher aber ist die Wahrscheinlichkeit für islamistische Attentate in anderen Regionen Russlands. Sollte es zu Terroranschlägen kommen, wäre dies ein erheblicher Ansehensverlust für Vladimir Putin.
Wie andere Regierungen zuvor, wird die russische Führung die Olympischen Spiele dazu nutzen, das Prestige Russlands zu stärken. Sollen aber autoritäre Regime die Gelegenheit erhalten, dies zu tun? Zweifellos sollte das IOC bei der Vergabe der Spiele die politischen Verhältnisse im Gastgeberland berücksichtigen. Allerdings wird es nicht möglich, aber auch nicht wünschenswert sein, Olympische Spiele nur in liberalen Demokratien auszurichten. Der Wettstreit der Athleten sollte dazu dienen, Völker einander näher zu bringen; Spiele aber sind nicht Austragungsstätte für politische Rivalität, ideologische Auseinandersetzungen und Abrechnungen.
Die Tscherkessen wurden vor genau 150 Jahren von den Russen (nach einer vernichtenden Schlacht) aus Sotschi vertrieben. Angeblich soll bei der Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele auch darauf Bezug genommen werden. Es bleibt abzuwarten, ob und in welcher Form das tatsächlich geschieht …