Der wenig wahrscheinliche Krieg

Wie schon seit vielen Wochen halte ich eine direkte militärische Invasion der russländischen Streitkräfte in der Ost- und Südukraine weiterhin für unwahrscheinlich. Russland zielt in der Ukraine nicht auf weitere territoriale Gewinne ab, sondern auf Durchsetzung seiner Interessen. Diese sind die multilaterale vertragliche Absicherung des bündnisfreien Status der Ukraine, die Harmonisierung der Freihandelsintegration mit der EU mit dem ukrainischen Freihandelsabkommen mit Russland und eine radikale Föderalisierung der Ukraine. Wenn sich darüber eine multilaterale Verständigung zwischen Russland, der Ukraine, der EU und der USA finden ließe, könnte eine militärische Eskalation verhindert werden. Dieses multilaterale Format aber funktioniert nicht, weil die Interessen zu sehr divergieren und ihm kein ehrlicher Makler angehört.

Die derzeit an den nord- und ostukrainischen Grenzen stationierten russländischen Soldaten reichen nur für eine begrenzte militärische Operation aus, nicht aber für den vielerorts befürchteten Vorstoß bis Odessa und Transnistrien. Auch für die Sicherung der “Grenzen” der besetzten Regionen Charkov, Lugansk und Doneck reichen die derzeit Manöver abhaltenden russländischen Truppen nicht aus.

Eine russländische militärische Invasion würde auch auf den Widerstand großer Teile der lokalen Bevölkerung stoßen. Nur wenige Bürger der genannten Regionen halten die Regierung in Kiiv für legal, aber nur eine kleine Minderheit will den Anschluß an Russland. Die überwiegende Mehrheit will nur größere Autonomierechte für die eigene Region. Die Zustimmung zu den Aktionen der Aufständischen ist sichtbar gering.

Eine russländische militärische Invasion würde auch auf den Widerstand der ukrainischen Streitkräfte und in der Folge auch ukrainischer Partisanen stoßen. Ein offener Krieg mit zahlreichen Toten wäre auch in Russland nicht populär. Die russische Bevölkerung unterstützte zwar die Annexion der Krim; Umfragen zufolge lehnt sie einen „Bruderkrieg“ zwischen den beiden slawischen Nationen aber ab.

Nicht zuletzt die berechtigte Sorge vor sektoralen Wirtschafts- und Finanzsanktionen durch die EU und die USA hält Russland vor einem direkten militärischen Eingriff ab. Die wirtschaftlichen Kosten eines weiteren territorialen Ausgreifens Russlands könnte die stagnierende russländische Volkswirtschaft nicht verkraften.

Wahrscheinlicher als ein offener Krieg ist, dass Russland weiterhin auf eine Destabilisierung der Regionen in der Ostukraine setzt – diese direkt oder indirekt unterstützt. Das untergräbt die Legitimität und die Effektivität der ukrainischen Interimsregierung. Auf gewalttätige Aufständische zu setzen, die Geiseln nehmen und mutmasslich Gegner ermorden ist aber eine unwürdige Strategie.

Eine Unsicherheit besteht allerdings: Sollte sich die ukrainische Führung entscheiden, militärisch gegen die Aufständischen vorzugehen, ist eine, allerdings begrenzte, militärische Intervention Russlands denkbar.

Dieser Kommentar ist am 30. April 2014 in der “Wiener Zeitung” erschienen.

3 thoughts on “Der wenig wahrscheinliche Krieg”

  1. ” . . . Das untergräbt die Legitimität und die Effektivität der ukrainischen Interimsregierung. . . . ”
    Wenn man die Herkunft des Wortes “legitim” beachtet, ist es für mich schon mehr als erstaunlich, dass die USA und die EU die per Putsch installierte Übergangsregierung als “legitim” ! anerkannt haben.
    Und dass Sie, Herr Prof. Mangott, dieser Diktion folgen!
    Oder stimmt es nicht, dass diese Regierung auf absolut undemokratische Weise an die Macht kam.

    fragt
    Rudolf Wagner

  2. Tatsache ist, dass die Absetzung von Präsident Janukovic, dem kleptokratischen, autoritären und unfähigen Machthaber, nicht verfassungskonform erfolgte. Daher stellt sich die Frage, ob Interimspräsident Turcinov tatsächlich rechtlich befugt war, die Interimsregierung anzugeloben.

  3. ” . . . Daher stellt sich die Frage, ob Interimspräsident Turcinov tatsächlich rechtlich befugt war, die Interimsregierung anzugeloben.”
    erwidert Prof. Mangott in seinem letzten Posting.
    Wenn eine neue Regierung, wenn ein neuer Präsident unter Begleitung von Umständen an die Macht gelangt, die hochgradig aufklärungsbedürftig sind – ich erinnere an die Dutzenden von Toten, die es in diesem Zusammenhang gegeben hat – so scheint es mir eine Frage des simpelsten Anstandes zu sein, dass man eine solche Regierung, einen solchen Präsidenten zumindest solange nicht anerkennt, solange man nicht alles unternommen hat, dass die höchst gewalttätigen und wohl auch höchst kriminellen Vorgänge auf dem Majdan abgeklärt und die dafür Verantwortlichen zur Rechenschaft gezogen worden sind.
    Dass diese Abklärung glaubwürdig nicht durch die jetzige ukrainische Regierung bzw. durch ukrainische Gerichte erfolgen kann, scheint sich mir von selbst zu verstehen.
    Inzwischen hat es bezüglich des Ukraine-Schlamassels in der ORF-Sendung “Im Zentrum” am letzten Sonntag eine weitere Diskussion zu diesem Thema gegeben, zu der auch Prof. Mangott eingeladen war.
    Prof. Mangott ist mir durch eine gleichermassen kompetente wie sachliche Behandlung des angeführten Themas aufgefallen, sodass es mich dann umso mehr verwunderte, dass er – schon ziemlich am Ende der Sendung – die Forderung aufstellte, gegen Russland eine dritte Stufe von Sanktionen in Kraft zu setzen für den Fall, dass seine Truppen
    den Osten des Landes besetzen.
    Man vergesse nicht, Mangott ist Politologe eines – offiziell – neutralen Staates.
    Zudem ist Österreich – als Mitglied der Europäischen Union – Partei in der angesprochenen Angelegenheit und somit wohl kaum dazu berufen, den Richter zu spielen, was natürlich auch auf die Europäische Union im Ganzen und auf die USA zutrifft.
    Wäre es nie zu einer Anerkennung der ukrainischen Übergangsregierung durch die westliche Staatengemeinschaft gekommen, so hätte es wohl auch nie eine Heimholung der Krim nach Russland gegeben.
    Und es wäre uns wohl auch das meiste, was sich in der Folge dieser Entwicklung abgespielt hat, erspart geblieben.
    Trotzdem, Russland ist nicht dazu legitimiert, den Weltpolizisten zu spielen, genausowenig wie die Amerikaner. Aber wir, die westliche Staatengemeinschaft, sind auch nicht dazu legitimiert, bezüglich eines solchen Fehlverhaltens das Weltgericht zu spielen.
    Nehmen wir diese Ereignisse also einmal mehr zum Anlass, dem bereits existierenden Internationalen Völkerrecht eine, durch die UNO legitimierte, Internationale Gerichtsbarkeit beizugesellen, und zeigen wir jenen Staaten, die eine solche Entwicklung blockieren, ganz klar die gelbe – vorerst die gelbe – Karte!
    Und vergessen wir nie:
    Freiheit und Friede kann es nur dort geben, wo man bereit ist, dafür auch Opfer zu bringen.

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