Nach der Einigung zwischen den USA und Tschechien über die Errichtung einer Radaranlage in Brdy als zentrale Komponente der strategischen Raketenabwehr im östlichen Europa hat Russland mit scharfer Rhetorik reagiert. Dies hat eine taktische und eine strategische Komponente. Taktisch versucht Russland mit militärischen Eskalationsdrohungen die Ratifizierung des Abkommens durch die Abgeordnetenkammer in Prag zu verhindern. Die Regierung Topolanek ist dazu auf die Unterstützung der Regierungskoalition durch Abgeordnete anderer Parteien angewiesen. Moskau nutzt dabei auch den Umstand, dass 70 Prozent der tschechischen Bevölkerung das Abkommen ablehnen.
Strategisch fühlt sich Russland aber tatsächlich bedroht. Das gilt nicht so sehr für die technischen und militärischen Fähigkeiten der Anlagen in Tschechien und Polen – der Aufklärungskapazität der Radaranlage in Brdy im Verbund mit bereits bestehenden Radaranlagen im nördlichen Norwegen und auf den Aleuten; oder der technischen Fähigkeit der Interzeptoren in Polen, russländische Interkontintalraketen auf ihrer transpolaren Flugroute abzufangen. Das derzeitige nuklear bestückte Arsenal an russländischen land- und seegestützten Interkontintentalraketen (ICBMs und SLBMs) ist dafür zu groß; auch bestehen erhebliche Zweifel, dass dies die Absicht der amerikanischen Militärplaner ist. Es ist aber anzumerken, dass die Interzeptorenstellungen ausgebaut werden können und zugleich die Zahl der Interkontinentalraketen Russlands bis 2015 stark zurückgehen wird.
Auch die in Moskau derzeit geäusserte Sorge, die Interzeptoren könnten nuklear bestückt und mit einer geringen Vorwarnzeit zu einem Enthauptungsschlag gegen Moskau benutzt werden, ist nicht haltbar, weil dies technisch kaum durchführbar ist.
Die eigentliche Sorge Russlands gilt dem systematischen Aufbau einer militärischen Präsenz der USA in Osteuropa. Nach der Errichtung von Basen in Rumänien und Bulgarien, werden nunmehr auch amerikanische Soldaten in Tschechien und in Polen (oder Litauen) stationiert sein. Darüberhinaus hat Condoleezza Rice vor wenigen Tagen in Sofia erklärt, mehere Staaten der Region würden ‚in der einen oder anderen Weise‘ in die Raketenabwehranlage eingebunden werden. Russland fürchtet daher eine militärische Einkreisung, zumal die USA auch militärische Präsenz in Georgien (Militärberater sind bereits vor Ort) und Aserbajdžan anstreben und auch in Kirgisistan über die Luftwaffenbasis Manas verfügen.
Russland wird darauf mit assymetrischen militärischen Massnahme reagieren, allen voran mit der Stationierung von taktischen Nuklearwaffen in Kaliningrad (und möglicherweise auch in Belarus). Dadurch wird ein informelles Übereinkommen zwischen Russland und der USA aus dem Oktober 1991 gebrochen, taktische Nuklearwaffen (TNWs) radikal abzurüsten, nur noch luftgestützt zuzulassen und die restlichen TNWs in zentralen Lagerstätten (central storage facilities) aufzubewahren. Die Stationierung von TNWs in Kaliningrad wäre kein Vertragsbruch, aber eine Abkehr von einem weiteren Element der strategischen Rüstungskontroll- und Sicherheitsarchitektur zwischen den beiden Grossmächten. Auch eine Kündigung des INF-Vertrages aus 1987 über die Zerstörung von ballistischen Trägermitteln mit einer Reichweite zwischen 500 und 5.500 km durch Russland ist möglich.
Das Ergebnis der Raketenabwehrpläne der USA könnte daher eine weitere Erosion der Abrüstungsarchitektur sein, die seit SALT I und ABM-Vertrag in 1972 errichtet wurde. Ein zweifelhafter ‘Gewinn’ angesichts der ungesicherten technischen Funktionsfähigkeit der Missile Defense. Nach dem Auslaufen des Start-I Abkommens in 2009 und des Moskauer Vertrages 2012, der Kündigung des ABM-Vertrages durch die USA 2001/02 und der Suspendierung des KSE-Vertrages durch Russland bricht die vertragliche Rüstungskontrolle zusammen.