Russland hat mit militärischen Mitteln seine Macht demonstriert. Die militärisch abgesicherte Rückführung der Krim in den russischen Staatsverband und die militärische Destabilisierung der Ukraine in den Regionen Donezk und Lugansk waren aggressive Bekundungen russischer Realpolitik. Nicht das erste Mal, aber mit besonderer Rücksichtslosigkeit hat Russland damit militärisch versucht, seine vitalen Interessen im Raum der ehemaligen UdSSR abzusichern.
In der Gemeinde der Russlandexperten ist darüber eine hitzige Debatte entstanden: Ist das russische Verhalten als das einer, in Bedrängnis geratenen, reaktiven Macht zu verstehen, die sich gegen westliche Machtentfaltung auf Kosten Russlands wehrt? Oder aber ist das russische Vorgehen Ausdruck einer aggressiven revisionistischen Linie russischer Außenpolitik, die versucht, Russlands alte Machtstellung mit allen möglichen Mitteln wieder zu erlangen?
Ist Russland also eine defensive Macht, die sich mit völkerrechtswidrigen und gewalttätigen Mitteln gegen eine von Russland so wahrgenommene westliche Einkreisung wehrt? Oder aber ist Russland auf einem offensiven Kurs, seine Macht und seinen Einfluss in den Nachbarstaaten wieder auszuweiten?
Diese Debatte ist nicht nur akademisch wichtig, sondern auch für die Einschätzung des weiteren Vorgehens Russlands unabdingbar notwendig. Ist Russland eine revisionistische Macht, wird sich das Land nicht mit der militärischen Destabilisierung der Ukraine begnügen. Das Risiko ist dann groß, dass Russland auch andere Nachbarstaaten unterwandern könnte.
In der Ukraine hat Russland seine Handlungen nicht zuletzt mit der Pflicht begründet, seine ethnisch-russischen Landsleute zu schützen. Die russische Führung spricht von der „russischen Welt“, die es zu schützen gelte. Diese „russische Welt“ ist sehr groß: Noch immer leben annähernd 15 Millionen ethnische Russen außerhalb der russischen Landesgrenzen. Putin nannte die Russen daher im März 2014 das am stärksten geteilte Volk der Welt.
1991 waren mehr als 25 Millionen ethnische Russen außerhalb der Landesgrenzen verblieben. Mehr als drei Viertel davon siedelten in Belarus, der Ukraine und in Kazachstan. Die Anteile der ethnischen Russen an der Landesbevölkerung war wiederum in Estland, Lettland und in Kasachstan am höchsten. In den vergangenen 23 Jahren aber sind sehr viele ethnische Russen nach Russland rückgewandert.
In der Ukraine lebten vor der Fluchtbewegung aus der östlichen Ukraine mehr als 8 Millionen ethnische Russen; das waren 17,3 Prozent der Gesamtbevölkerung. In Kasachstan sind 23,7 Prozent seiner Bürger ethnische Russen – mehr als 4,2 Millionen Menschen. In Estland und Lettland liegt der ethnisch-russische Bevölkerungsanteil zwar bei 24,8 bzw. 26,2 Prozent; in diesen bevölkerungsschwachen Staaten sind das aber nur 310.000 bzw. 570.000 Menschen.
Gerade im Baltikum ist die Sorge groß, dass Russland die ethnisch-russische Bevölkerung als Hebel für die Einmischung in die inneren Angelegenheiten nutzen könnte. Mehr noch – manche fürchten eine von Russland ausgehende Unterwanderung dieser Staaten, ganz nach ukrainischem Vorbild. Die russische Regierung verweist tatsächlich immer wieder auf die Verletzung der Rechte der ethnischen Russen in diesen Staaten. Vor wenigen Tagen hat das der Menschenrechtsbeauftragte des russischen Außenministeriums, Dolgov, in einer Aufsehen erregenden Rede wieder getan.
Durch rigide Staatsbürgerschafts- und Sprachgesetze haben es Estland und Lettland den ethnischen Russen in der Tat nicht einfach gemacht, sich als Bürger des neuen Staates zu integrieren. Das gilt vor allem für die Älteren unter ihnen, die sich weigern oder denen es schwer fällt, die estnische oder lettische Sprache zu erlernen. Die baltischen Russen sind aber in ihrer großen Mehrheit loyale Bürger ihrer jungen Staaten – nicht zuletzt, weil diese einen höheren materiellen Wohlstand garantieren oder zumindest versprechen als Russland.
Neben dieser relativ starken Loyalität der ethnischen Russen im Baltikum, lässt freilich auch die NATO-Mitgliedschaft dieser Staaten ein „ukrainisches Szenario“ russischer Aggression äußerst unwahrscheinlich erscheinen. Auch wenn das Territorium der baltischen Staaten militärisch nicht leicht zu verteidigen ist, ist dennoch sicher, dass sich die Bündnismitglieder einem militärischen Angriff Russlands militärisch entgegegstellen würden.
Anders die Lage in Kasachstan. Kasachstan gehört einem Militärbündnis mit Russland an; seine Streitkräfte sind schlecht ausgebildet und ausgerüstet. Dazu kommt, dass die ethnischen Russen relativ geschlossen in einem Bogen von der nordwestlichen bis zur nordöstlichen Landesgrenze mit Russland siedeln – dem russischen Staatsgebiet daher leicht anzuschliessen wären. Unlängst hat Vladimir Putin selbst darauf hingewiesen, dass Kasachstan keine Tradition staatlicher Selbständigkeit habe. In diesem Steppenland könnte in den nächsten Jahren die Nachfolge des alten Präsidenten Nazarbaev zu politischer Instabilität führen. Auch ist nicht auszuschließen, dass die neue kasachische Führung sich durch einen starken ethnisch-kasachischen Nationalismus zu legitimieren versuchen wird. In diesem Fall ist denkbar, dass Russland, zum „Schutz“ der ethnischen Russen, die nördlichen Landesteile besetzen könnte. Allerdings wäre dies das Ende der von Putin so hartnäckig verfolgten Eurasischen Union, der neben Russland eben Kazachstan und Belarus, bald auch Armenien angehören. Das Szenario einer russischen Militäraktion in Kazachstan ist daher zwar nicht auszuschliessen, aber nicht sehr wahrscheinlich.
Mit Ausnahme Kirgisiens gibt es in den anderen zentralasiatischen Staaten keine nennenswerten ethnisch-russischen Minderheiten mehr. In Georgien hingegen waren die russischen Streitkräfte bereits im Einsatz. Aber nicht um die dort kaum noch siedelnden ethnischen Russen zu verteidigen, sondern um separatistische Bewegungen von kaukasischen Völkern zu unterstützen. Ziel Russlands war dabei, die Westanbindung Georgiens zu unterlaufen – ein Ziel, das nur teilweise erreicht worden ist.
Im transnistrischen Landesteil Moldovas aber hat Russland schon seit mehr als zwanzig Jahre Soldaten stationiert, um das mehrheitlich russisch-ukrainische Transnistrien von einem nach Rumänien strebenden Moldova zu schützen.
Trotz der von manchen Nachbarstaaten Russlands geäußerten, von radikalen Nationalisten bisweilen geschürten, Angst vor weiteren russischen Aggressionen, sind diese Szenarien also aus derzeitiger Sicht nicht realistisch. Russland hat auch nicht die ökonomischen und militärischen Mittel um eine ausgreifende revisionistische Außenpolitik zu betreiben. Die Ukraine muss daher als Sonderfall einer durchaus revisionistisch gesinnten russischen Staatsführung angesehen werden. Letztlich ist auch dort der angeblich erforderliche Schutz der ethnischen Russen nur ein Vorwand für die strategischen Interessen Russlands gewesen.
Foto: http://shitalloverhumanity.deviantart.com/art/Russian-flag-with-Coat-of-Arms-331952241
Hallo,
erstmal möchte ich sagen das Ihre Berichte nüchterner sind als von der vermeintlichen “Qualitätspresse”. Doch möchte ich Sie etwas fragen, Sie schreiben ” von Russland so wahrgenommene westliche Einkreisung” (damit ist primär wohl die NATO gemeint, zumindest wird es allgemein so verstanden). Es ist natürlich sehr infantil zu behaupten wenn Sie gegen die anderen (Russland) sind, sind sie auf der anderen Seite (USA). Rein Geopolitische Wahrnehmung. Doch es sieht in Ihren Texten so aus. Und ich bin bestimmt kein Schwarz Weiß Maler, doch man stelle sich dieses Szenario vor: Es gebe ein GUS Staaten Militärbündnis und dieses würde sich in Cuba oder gar Mexiko ausbreiten. Was würde da wohl passieren ? Die Antwort kennen Sie. Deswegen ist es völlig Legitim für Russland sich sorgen zu machen Über die NATO OST Erweiterung.
Noch was, Sie haben sicher den Vortrag von George Friedman beim Chicago Council on Global Affairs gesehen. Im dem Friedman ganz offen die Außenpolitischen Ziele der USA erklärt . ( Wir wissen wen STRATFOR berät) Wie kann man nun diese Erklärung im Kontext zu Ihren Berichten sehen?
Danke und Gruß