Navalnij als moralische Ikone?

Die emotionale Aufregung um das Schicksal von Aleksej Navalnij ist groß. Eine emotionale Erregung, die meistens davon absieht, sich auch mit sachlichen Fragen nach der inhaltlichen Position Navalnijs auseinanderzusetzen. Besonders bemerkenswert sind Aussagen, die Navalnij in einer Reihe mit den sowjetischen Dissidenten Aleksander Solženizyn und Andrej Sacharov nennen. Gibt es für die Aussage aber auch sachliche Grundlagen?

Natürlich, alle drei Personen wurden/sind inhaftiert aus politischen Gründen. Internationale NGOs bewert(et)en sie als „Gewissensgefangene“. Die beiden sowjetischen Dissidenten aber waren große moralische Autoritäten und Kämpfer für „intellektuelle Freiheit“. Auch wenn bei Solženizyn später markanter russischer Nationalismus festzustellen war, so war er doch wohl der nachhaltigste und bedeutendste Kritiker des Stalinismus und dessen Erbes für die Sowjetunion. Sacharov, selbst Teil der offiziellen intellektuellen Elite der Sowjetunion, war bereit, diese Position aufzugeben, um auf die düstere Menschenrechtslage in der UdSSR und das Fehlen von geistiger und individueller Freiheit hinzuweisen. Navalnij hingegen ist ein politischer Opportunist, der sich mal rechtsnationalistische Parolen leistet, um Gefolgschaft aufzubauen, um dann wieder in linken Populismus zu verfallen, wenn ihm das geeigneter erscheint, den Kreis seiner Unterstützer zu mehren. Als die russische Regierung, den strukturschwachen Nordkaukasus wirtschaftlich und finanziell zu stabilisieren versuchte, war Navalnijs Reaktion rassistisch: „Hört auf, den Kaukasus zu mästen“. Nur in Navalnijs rechtem Nationalismus wäre eine gewisse Ähnlichkeit zu Solženizyn – denken Sie an den „Brief an die sowjetische Führung“ aus dem Jahr 1974 – auszumachen.

Navalnij kann in Russland sicher nicht als moralische Größe angesehen werden, die liberalen Werten folgt. Seine Ausfälle gegen MigrantInnen, sein rechter Nationalismus,  dem anzuhängen, er bis heute immer wieder bestätigt, seine Haltung zum Islam, lassen eine solche Einschätzung als moralische Ikone nicht zu. Es fehlt ihm die moralische gravitas, die Solženizyn, vor allem aber Andrej Sacharov auszeichnete.

Navalnij hat auch, anders als Sacharov und Solženizyn, erklärte politische Ambitionen. Nicht bloß moralisches Gewissen will Navalnij sein, sondern er strebt nach politischer Macht. Sein Sendungsbewusstsein, für ein „Russland ohne Putin“ (Rossija bez Putina) unentbehrlich zu sein, ist verbunden mit dem Wunsch, selbst politischer Funktionsträger zu werden. Dabei ist zu vermerken, dass er selbst – so wie Putin – ein sehr personalisiertes Machtverständnis hat. Er selbst hält sich für geeignet, Russland zu führen; dabei wäre der Aufbau demokratischer Institutionen wesentlich wichtiger als ein bloßer Personenwechsel an der Spitze Russlands. Er iszeniert seine Aktivitäten als ein Duell zwischen ihm und Putin; er stellt aber nicht ein liberales Wertsystem den autoritären Normen der derzeitigen russischen Führung entgegen.

Natürlich kann man Navalnijs Unerschrockenheit rühmen; natürlich kann man mit dem Leiden Navalnijs mitfühlen. Aber das sind letztlich Emotionen. Emotionen, die die mediale Berichterstattlung und die politischen Stellungnahmen dominieren. Viel wichtiger ist die sachliche Auseinandersetzung mit seinen inhaltlichen Positionen und der mageren politischen Plattform, die er bisher ausgearbeitet hat. Das lässt das Bild Navalnijs ernüchtern.

Freilich ändert dies gar nichts daran, die Strafverfolgung Navalnys zu verurteilen und das harte Vorgehen gegen Andersdenkende in Russland abzulehnen. 

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