Das Misstrauen zwischen Russland und dem Westen ist allgegenwärtig. Zuletzt hat Putin von Lüge und Betrug durch den Westen gesprochen. Die russische Truppenmobilisierung an den Grenzen der Ukraine hat zu Befürchtungen einer erneuten militärischen Aggression Russlands geführt. Die „beruhigendste“ Deutung dieses Aufmarsches ist, dass Putin damit seinen Forderungen nach westlichen Sicherheitsgarantien für Russland Nachdruck und Dringlichkeit verleihen möchte. Russland fordert eine rechtsverbindliche Zusage der NATO, sich nicht weiter nach Osten auszudehnen; das Mitgliedschaftsversprechen der NATO an die Ukraine und Georgien aus dem Jahr 2008 zurückzunehmen und schließlich, keine offensiven Waffensysteme in der Ukraine, aber auch in den osteuropäischen Mitgliedsstaaten der NATO zu stationieren.
Die USA haben sich bereit erklärt, über die russischen Sicherheitserwartungen zu verhandeln, aber auch über westliche Sicherheitsbedürfnisse gegenüber Russland. Zielt Putin also auf eine Verhandlungslösung ab? Vielleicht. Die Forderungen, die Russland erhebt, werden allerdings sicher nicht erfüllt werden. Putin kann selbst nicht daran glauben, dass die NATO Russland in dieser Hinsicht entgegenkommen wird. Die Forderungsliste ist also kein konstruktiver Verhandlungsansatz. Noch dazu hat die russische Seite, die Forderungen öffentlich gemacht. Das untergräbt den Glauben daran, dass Russland ernsthaft eine Verhandlungslösung sucht. Soll das dem Westen zugeschriebene Scheitern der Verhandlungen als Rechtfertigung für ein militärisches Vorgehen Russlands dienen?
Will Russland aber wirklich eine Verhandlungslösung, setzt sich Putin mit dem Öffentlichmachen seiner Begehrlichkeiten selbst unter Druck. Bleiben die Verhandlungen erfolglos oder ohne große Zugeständnisse, wird Putin an seinen ursprünglichen Forderungen gemessen werden. Wird Putin dann das Scheitern der Gespräche hinnehmen und zur Tagesordnung übergehen, was für ihn einen immensen Gesichtsverlust mit sich bringen würde, oder wird Russland dann tatsächlich militärisch eskalieren?
Warum kam es aber zu diesem Truppenaufmarsch gerade jetzt? Das hat vor allem mit der Richtungswende der Regierung Selenskij in der Ukraine zu tun. Der 2019 gewählt Präsident ist im abgelaufenen Jahr deutlich nach rechts gerückt. Wiederholt hat er das Minsker Abkommen zur Regelung des militärischen Konflikts in der Ostukraine aus dem Jahr 2015 in Frage gestellt. Die Bestimmungen dieses Abkommens würden der Ukraine ungebührliche Verpflichtungen auflasten. Auch hat Kiyv das Normandie-Format, im Rahmen dessen der Donbass-Konflikt bearbeitet wird, in Zweifel gezogen. Zu den bisherigen Mitgliedern Deutschland, Frankreich, Russland und der Ukraine, sollten auch die USA, möglicherweise auch das Vereinigte Königreich beigezogen werden. Die ukrainische Führung erwartet sich davon eine Stärkung der eigenen Verhandlungsposition. Für die russische Führung zeigte sich in diesen Äußerungen, dass die Umsetzung des Minsker Abkommens in eine Sackgasse geraten war. Zudem ist die Regierung Selenskij hart gegen die russlandfreundliche Opposition vorgegangen, hat zahlreiche ihrer Fernsehsender geschlossen und Putins Verbindungsmann in der Ukraine Viktor Medvetschuk des Hochverrats angeklagt. Von Selenskij ist aus russischer Sicht daher keine kooperative Haltung mehr zu erwarten.
Neben dieser Richtungswende ist auch die Annäherung der Ukraine an die NATO – beinahe bis unterhalb der Schwelle der formalen Mitgliedschaft – für Russland nicht mehr akzeptabel. Die Lieferung letaler Waffen an die Ukraine durch die USA und andere NATO-Staaten, die Ausbildung der ukrainischen Streitkräfte durch die USA sowie die Durchführung gemeinsamer Manöver der Ukraine und der NATO will Russland nicht weiter akzeptieren.
Die aktuelle Bedrohung durch die NATO ist für Russland noch kalkulierbar. Kluge Sicherheitspolitik muss aber auf mögliche Absichten und Fähigkeiten der NATO in der Zukunft abstellen. Russland hegt tiefes Misstrauen gegenüber den Absichten des westlichen Bündnisses. Das Selbstverständnis der NATO, eine ausschließlich defensive Allianz zu sein, teilt Russland nicht. Russland wäre durch eine fortgesetzte Erweiterung und die Schaffung von militärischer Infrastruktur für Offensivwaffen in den neuen Mitgliedsstaaten tatsächlich strukturell bedroht. Der Westen sollte jedenfalls nicht so vermessen sein, Russland zu erklären, wovon es sich bedroht fühlen darf.
Russland muss sich bei einer militärischen Aggression gegen die Ukraine jedenfalls die Frage von Kosten und Nutzen stellen. Der Nutzen hängt natürlich vom Ausmaß der militärischen Operation ab. Die Schaffung einer Landbrücke vom Donbass bis zur Krim oder gar bis nach Odessa wäre ein massiver strategischer Gewinn für Russland. Je breiter die Operation aber angelegt wäre, umso höher wären die Verluste an Soldaten und Gerät, umso schwieriger wäre das Halten der territorialen Eroberungen in einem feindlichen Umfeld. Die Ambitionen erneuerter Großmachtgeltung wären damit sicher befriedigt (wenn auch vielleicht noch nicht saturiert).
Die Kosten scheinen aus westlicher Hinsicht aber deutlich höher als der Nutzen für Russland. Das beginnt mit einer großen Skepsis bis hin zur Ablehnung der militärischen Eskalation in der russischen Bevölkerung. Ein offener „Bruderkrieg“ wollen nur Wenige sehen. Das Argument, Putin wolle sich zur Stärkung seiner Stellung im Inneren ein militärisches Abenteuer leisten, verfängt nicht. Zentral aber wären die Kosten, die der Westen Russland auferlegen würde: von harten Wirtschafts- und Finanzsanktionen wie dem Ausschluss aus dem SWIFT oder der Unterbindung des primären und sekundären Handels mit russischen Schuldtiteln bis zum Einfrieren der politischen Beziehungen.
Wahrscheinlich aber würde die NATO ihre Truppenpräsenz und die militärische Infrastruktur in ihren östlichen Mitgliedsstaaten deutlich ausweiten. Die mit den USA aufgenommenen Gespräche über strategische Stabilität würden in sich zusammenbrechen.
Beobachter, die meinen sicher zu wissen, dass Russland die Ukraine erneut militärisch angreifen wird, sind Täuscher und Blender. Das weiß nur Putin und seine engste Umgebung. Vermutlich hat die russische Führung auch noch keine definitive Entscheidung getroffen. Aber die Vorzeichen sind beunruhigend.
Als Kommentar der Anderen erschienen in der Tageszeitung Der Standard am 28.12.2021.
Foto: Deutsche Welle (https://www.dw.com/en/russia-and-ukraine-chronicle-of-an-undeclared-war/a-60214630)