Die territorialen Verluste der russischen Armee in der Region Charkiv seien ein „geplanter, geordneter Rückzug“ gewesen, meinte das russische Verteidigungsministerium. Tatsächlich aber wurde die russische Armee von den ukrainischen Streitkräften vertrieben. Manche russischen Verbände sind regelrecht geflohen. Die russische Armeeführung hat mit der ukrainischen Gegenoffensive in dieser Region offenbar nicht gerechnet. Zumindest waren die Reihen der russischen Armee an diesem Abschnitt der Frontlinie zu sehr ausgedünnt, um Widerstand leisten zu können.
Russland fehlt es an Personal, die eroberten Gebiete an allen Frontabschnitten zu halten. Das hängt zum einen damit zusammen, dass eine sehr hohe Zahl an Soldaten getötet oder verwundet wurde. Zum anderen damit, dass russische Versuche, Freiwillige oder Vertragssoldaten zu rekrutieren, nicht sonderlich erfolgreich waren.
Ohne eine Verstärkung der Truppe bleibt die russische Armee aber verwundbar. Das lässt sich nur auf zwei Arten lösen: Die russische Führung reduziert die eroberten Gebiete darauf, was sie militärisch zu halten imstande ist, oder sie nimmt eine partielle Generalmobilmachung vor, mit den rezentesten Jahrgängen und den notwendigen Waffengattungen.
Darin liegt aber das Dilemma für Putin: Ohne Personalverstärkung durch eine teilweise Generalmobilmachung wird es schwer werden, alle eroberten Gebiete zu halten. Mit einer Generalmobilmachung geht Putin schwer kalkulierbare politische Risiken ein. Putin hat bis jetzt versucht, in der Bevölkerung den Eindruck zu erwecken, dass das Leben trotz der „militärischen Spezialoperation“ ganz normal weitergehen würde. Dieser Eindruck war zwar in den Regionen, aus denen die meisten Gefallenen stammen, kaum mehr aufrecht zu halten. In den Städten Moskau und Petersburg gibt es aber kaum gefallene Soldaten. Diese „Beruhigung von oben“ hat bislang dazu geführt, dass sich in der russischen Bevölkerung keine Mehrheit gegen den Krieg ergeben hat.
Eine Generalmobilmachung aber erfordert nach russischem Recht die Ausrufung des Kriegszustandes. Wäre plötzlich von Krieg die Rede, würde das weite Teile der Bevölkerung aufschrecken. Wichtiger jedoch ist, dass die Passivität und die Resignation, mit der man auf die bisherige „Spezialoperation“ reagiert hat, durch Unmut ersetzt würde, wenn Väter und Söhne einberufen werden, um an der Front zu kämpfen. Dieser Unmut, der in seinem Ausmaß schwer einzuschätzen ist, war für Putin bislang aber ein zu hohes Risiko.
Putin hat sich angesichts dieses Dilemmas noch nicht entschieden. Die nationalistische Rechte fordert eine Generalmobilmachung. Diese Kräfte fordern auch personelle Konsequenzen im Generalstab und in der Führung des Verteidigungsministeriums. Es gibt belastbare Informationen, dass Putin sowohl mit Verteidigungsminister Šojgu, als auch mit dem Generalstabschef Gerasimov unzufrieden ist. Würde er sie aber entlassen, ist keineswegs sicher, dass Andere die militärische Lage besser in den Griff bekommen werden. Vor allem aber wären diese Entlassungen ein öffentlich sichtbares Zeichen, dass die „Spezialoperation“ doch nicht „nach Plan“ verläuft, wie mantraartig immer wieder behauptet wird.
Putin, der diesen völkerrechtswidrig fahrlässig begonnen hat, weil er sich einen Blitzkrieg erwartet hat, wird sich entscheiden müssen. Um seine Macht nicht zu gefährden, darf er diesen Krieg nicht verlieren.
Die erfolgreiche ukrainische Gegenoffensive ist noch kein Anzeichen dafür, dass der Ukraine die Rückeroberung des gesamten Territoriums gelingen wird. Aber es ist nichtsdestotrotz ein Erfolg, der die Moral der ukrainischen Armee und den Widerstandswillen der Bevölkerung deutlich steigern wird. Verhandlungen mit der russischen Führung lehnt die ukrainische Regierung ab; sie spricht davon, erst dann verhandeln zu wollen, wenn alle russischen Soldaten aus der Ukraine vertrieben seien. Dann gibt es allerdings auch nichts mehr zu verhandeln; dann wäre der russische Angriffskrieg kläglich gescheitert. Die ukrainische Führung würde aber wohl früher bereit sein, mit Russland zu verhandeln. Dann nämlich, wenn sie die russische Armee auf die Positionen vor dem 24. Februar hat zurückdrängen können. Es geht derzeit also darum, die eigene Verhandlungsposition zu stärken.
Mit dem jüngsten militärischen Erfolg werden die Stimmen im Westen sicherlich deutlich leiser werden, die bislang argumentiert hatten, die Ukraine würde den Krieg jedenfalls verlieren und die westlichen Waffenlieferungen würden die Niederlage nur hinauszögern. Mit dem Erfolg in der Region Charkiv konnte die Ukraine demonstrieren, dass sie mit Hilfe westlicher Waffen nicht nur imstande ist, den Vormarsch der russischen Truppen aufzuhalten, sondern auch Gebiete zurückerobern. Das wird in den westlichen Staaten sicher die Rufe laut werden lassen, der ukrainischen Armee auch westliche Kampf- und Schützenpanzer zu liefern. In Deutschland ist diese Diskussion innerhalb der Ampelkoalition schon zu beobachten.
Dem können zögerliche Regierungen nur entgegnen, dass Putin die Kriegsführung eskalieren lassen würde, wenn er davor steht, den Krieg zu verlieren. Wir können aber nicht belastbar sagen, ob diese Angst – vor allem vor dem Einsatz taktischer Nuklearwaffen – auch wirklich berechtigt ist. Wir sind jedenfalls in einem Augenblick des Krieges, wo viele Weichen neu zu stellen sind.
Dieser Kommentar ist am 14.9.2022 in der Wochenzeitung “Der Falter” erschienen.
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