Es war eine schmähliche Flucht. Die anrückende militärische Gegenoffensive der ukrainischen Truppen in der Region Charkiv drängte die russische Armee innerhalb weniger Tage bis auf die Grenzen der Region Donezk zurück. Die russischen Soldaten ließen militärisches Gerät und persönliche Gegenstände zurück. In voller Hast musste die russische Armee das Gelände hinter sich lassen, weil sie den heranrückenden ukrainischen Soldaten nichts entgegenzusetzen hatte. Gebiet, das in den vergangenen Monaten mit dem Blut zahlreicher russischer Soldaten erobert worden war, ging eilig verloren. Eklatantes Aufklärungs- und Führungsversagen auf der Ebene des Regionalkommandos bis zum Generalstab waren für diese russische Niederlage verantwortlich. Aber übernimmt irgendjemand die Verantwortung dafür?
Putin, der diesen Krieg mit zahlreichen Fehlentscheidungen begonnen hat, wird von jeglicher Verantwortung freigesprochen. Dabei ist er politisch hauptverantwortlich für das Kriegsgeschehen in der Ukraine. Das Verteidigungsministerium ließ verlauten, die russische Armee sei nicht vor den ukrainischen Truppen geflohen, sondern es habe sich um eine „geplante Truppenverlagerung“ gehandelt. Diese Aussage ist angesichts des tatsächlich Geschehenen natürlich absurd.
Meine Quellen im russischen Präsidialamt sagen mir, dass Putins Verhältnis zu Verteidigungsminister Šojgu, der diese Funktion seit 2012 innehat, stark getrübt sei. Dasselbe gelte auch für Generalstabschef Gerasimov; auch er hat diese Funktion seit fast einem Jahrzehnt inne. Bislang schreckt Putin vor deren Entlassung zurück. Zunächst, weil es nicht einfach ist, fähigere und mit der Materie vertraute Personen als Ersatz zu finden. Das relative Ansehen, das der Verteidigungsminister in der russischen Bevölkerung genießt, wäre für Putin kein Hinderungsgrund. Der wichtigere Grund ist ein politischer: Die Entlassung dieser Funktionsträger würde für die russische Öffentlichkeit deutlich machen, dass die „militärische Spezialoperation“ in der Ukraine eben nicht „nach Plan“ läuft, wie die Führung mantraartig behauptet. Dieses Dilemma auf oberster Kommandoebene hinderte Putin aber nicht, auf niedrigerer Ebene Schuldige zu suchen. So wurden innerhalb von 6 Wochen zweimal die Oberkommandierenden des Militärbezirks Westen gefeuert.
Aufhorchen muss Putin allerdings, wenn der Präsident Tschetscheniens, Ramzan Kadyrov, die oberste Militärführung Russlands kritisiert. Er müsse auf die Staatsführung zugehen, um ihr die Lage vor Ort zu erklären, wenn es nicht bald Änderungen bei der „militärischen Spezialoperation“ geben sollte. Zwar waren auch Kadyrovs paramilitärischen Einheiten im Krieg in der Ostukraine nicht sonderlich erfolgreich, aber das nötigte Kadyrov nicht zur Selbstkritik. Das Wort des brutalen Tyrannen hat in Russland aber dennoch Gewicht.
Auch wenn nur in der nationalistischen Rechten wegen des Kriegsverlaufs auch direkt an Putin Kritik geübt wird, muss Putin auf absehbare Zeit nicht um seinen Status fürchten. Auch die Aufrufe von Bezirksabgeordneten aus Petersburg und Moskau, Putin möge wegen Hochverrat als Präsident abgesetzt werden, gefährden Putins Stellung nicht. Sollte Putin in der Zukunft stärker für die Rückschläge in der Kriegsführung kritisiert werden, wird Putin auch Gefolgsleute in seiner Nähe dafür verantwortlich machen und sie entlassen. Bevor sein Stern fällt, muss er andere für das Versagen der russischen Armee verantwortlich machen.
Das dürfte in der Bevölkerungsmehrheit, die in diesem Krieg zu Putin hält, oder zumindest nicht gegen ihn ist, eine Zeit lang verfangen. Die Stimmung könnte aber kippen, wenn die Säuberungen nichts an der vertrackten Kriegslage ändern sollten. Die Menschen werden sich dann immer häufiger die Frage stellen, warum der „weise Zar“ Leute in Entscheidungsfunktionen gebracht hat, die dann offensichtlich versagen. Hat der Präsident keine glückliche Hand bei seiner Personalauswahl? Ist vielleicht doch Putin verantwortlich für den schlechten Verlauf des Krieges? Die Stimmung in Russland könnte nach gewisser Zeit kippen und die Reihen der Kriegsgegner, die derzeit in der Minderheit sind, stärken. Putin wird sich dann erklären müssen; dabei ist zweifelhaft, wie sich Putin dann rechtfertigen könnte.
Dieser Text ist am 21.9.2022 als Gastbeitrag auf focus.de veröffentlicht worden: https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-bevor-putins-stern-faellt-muessen-andere-fuer-sein-versagen-herhalten_id_150841251.html
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