Im Ukrainekrieg ist die Forderung nach Verhandlungen ziemlich toxisch – nicht nur für die Kriegsparteien, sondern auch für andere Staaten. Die ukrainische Führung hat Verhandlungen mit Putin per Dekret ausgeschlossen. Inhaltlich nachvollziehbar, aber keine gerade geschickte Position, weil dadurch bei zaudernden westlichen Staaten der Eindruck entstanden ist, die Ukraine würde sich Verhandlungen verschließen – denn ein Abgang Putins von der Macht ist auf absehbare Zeit nicht zu erwarten. Zudem verlangt die Ukraine vor dem Beginn der Verhandlungen den Abzug aller russischen Truppen von ukrainischem Territorium. Aber was sollte dann noch verhandelt werden außer die Bedingungen der Kapitulation Russlands und der Forderung nach russischen Kriegsreparationen?
Die russische Führung, auch Putin selbst, haben in den vergangenen Wochen immer wieder erklärt, sie seien zu Verhandlungen mit der Ukraine bereit. Gleichzeitig wird aber betont, dass Russland kein besetztes Gebiet abgeben werde, zumal es die eroberten Gebiete annektiert hat. Worüber soll dann überhaupt verhandelt werden? Der russische Diktatfrieden, der der Ukraine aufgezwungen werden soll? Zudem ist anzumerken, dass die wiederholten rhetorischen Verhandlungsangebote Russlands wohl auch westlichen Bevölkerungen suggerieren sollen, das Land sei zu Verhandlungen bereit, aber die Ukraine wolle nicht.
Festzuhalten ist wohl zu Recht, dass derzeit beide Kriegsparteien nicht bereit sind, ernsthafte Verhandlungen zu führen, die diesen Namen auch verdienen. Beide erwarten sich noch immer noch Erfolge auf dem Schlachtfeld, mit der die eigene Position bei späteren Verhandlungen gestärkt werden soll. Das gilt insbesondere, aber nicht nur, für die ukrainische Seite, die in den letzten beiden Monaten doch beachtliche Geländegewinne erzielt und die russischen Truppen stark zurückgedrängt hat. Ein Krieg kann nur auf zwei Arten beendet werden: Entweder eine der Kriegsparteien setzt sich militärisch durch und oktroyiert der anderen Seite die Kapitulationsbedingen. Oder beide Seiten kämpfen so lange, bis sie militärisch erschöpft sind und keine Perspektiven mehr auf dem Schlachtfeld zu haben glauben. In der Ukraine sind wir von beiden Szenarien noch weit entfernt.
Viele westliche Politiker sagen, zumindest öffentlich, es sei an der Ukraine zu entscheiden, ob und wann sie Verhandlungen worüber aufnehmen will. Das ist zunächst richtig, denn es gilt der Ukraine selbständige Handlungsfreiheit einzuräumen. Doch bei genauerem Hinsehen ist diese Position doch nicht sehr überzeugend. Diejenigen Staaten, die militärische Hilfe an die Ukraine liefern, sollten auch wissen, welche Kriegsziele die ukrainische Führung verfolgt und dann entscheiden, ob sie das Erreichen dieser mit Hilfe weiterer Waffenlieferungen unterstützen wollen. Westliche Staaten kommunizieren der Ukraine auch nicht-öffentlich, welche Kriegsziele sie unterstützen. Dabei ist der Westen aber alles andere als einig. Da sind die osteuropäischen Staaten und Britannien, die das maximalistische Ziel der Ukraine teilen – nämlich die russischen Truppen vollständig aus der Ukraine zu vertreiben – auch von der Krim. Andere, v.a. einige westeuropäische Staaten, haben aber Bedenken. Manche von ihnen fürchten, dass bei der Verfolgung maximalistischer Kriegsziele eine militärische Eskalation drohen würde; vielleicht sogar eine nukleare Eskalation. Sie drängen daher auf weniger weitreichende Kriegsziele.
Was aber sollen weniger weitreichende ukrainische Kriegsziele sein? Verzicht auf eigenes Territorium, das vor und nach dem 24. Februar von Russland besetzt wurde? Eine Rückkehr zum status quo ante, d.h. die russischen Truppen ziehen sich auf die Frontlinie vor Kriegsbeginn zurück? Darüber wird im Hintergrund heftig gestritten. Da spielen moralische, politische und rechtliche Überlegungen und Bedenken eine große Rolle. So wird es auf absehbare Zeit auch bleiben: Weder die Ukraine noch Russland wollen verhandeln. Plus: Der Westen ist nicht einmütiger Überzeugung, welche Verhandlungszugeständnisse denn welcher Kriegspartei abverlangt werden sollen.
Dieser Kommentar ist am 8.11.2022 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-warum-russland-und-die-ukraine-keine-ernsthaften-verhandlungen-fuehren_id_178705385.html)
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