Der erzwungene Rückzug der russischen Truppen vom Westufer der Regionen Cherson war die dritte schwere Niederlage für die russische Führung seit dem Beginn des Krieges. Auch wenn in Moskau offiziell von einer „Umgruppierung“ zum Schutz der Soldaten die Rede ist, bleibt es dennoch eine Niederlage.
Es läuft nicht gut für Putin in den letzten Wochen. Militärisch gelingt keine Offensive mehr, sondern bleibt nur der verzweifelte Versuch, die Frontlinien zu halten. Die versuchte Anzettelung einer wirtschaftlichen und politischen Krise in der EU durch die starke Drosselung der Gaslieferungen scheint nicht zu wirken. Umfragen zufolge, ist in der EU noch immer eine Bevölkerungsmehrheit für die fortgesetzte Unterstützung der Ukraine.
Die impliziten Drohungen der russischen Führung, „alle verfügbaren Mittel“ zur Verteidigung der eroberten und annektierten Regionen einzusetzen, blieb bislang nur eine leere Drohung. Moskau muss einen Gebietsverlust nach dem anderen hinnehmen. Die in der Drohung angelegte Botschaft, auch Nuklearwaffen einzusetzen, bleibt ohne Wirkung. Es gibt zwar westliche Regierungen, die aufgrund eines derartigen Eskalationsrisikos ihre Waffenlieferungen an die Ukraine in Grenzen halten. Die meisten westlichen Staaten hingegen sind der Ansicht, man dürfe sich nicht nuklear erpressen lassen und die Ukraine mit allen notwendigen militärischen Mitteln unterstützen.
Ganz im Gegenteil drohen enge Verbündete wie China von Russland abzurücken, sollte dieses Nuklearwaffen zur Verhinderung einer russischen Niederlage in der Ukraine einsetzen. Die Botschaft von Xi Jinping beim Besuch des deutschen Kanzlers war eindeutig. Die Drohung mit dem Einsatz von Nuklearwaffen sei „unverantwortlich“. Vielleicht auch deswegen buchstabiert die russische Führung in dieser Hinsicht etwas zurück. In einer Erklärung des Außenministeriums wird noch einmal die Nukleardoktrin bestätigt, wonach Russland in einem konventionellen Krieg nur dann Nuklearwaffen einsetzen wird, wenn seine staatliche Existenz gefährdet ist. Auch die alte Formal, wonach ein Nuklearkrieg nicht gewonnen und niemals geführt werden dürfe, wurde bekräftigt. Ist das ein Einknicken vor der chinesischen Haltung? Rückt Russland von den Atomdrohungen ab, weil die USA deutlich gemacht haben, mit welchen militärischen Konsequenzen Russland bei einem Einsatz von Nuklearwaffen zu rechnen habe? Es ist wohl beides. So vernünftig die neue postulierte Haltung Russlands auch ist, sie ist letztlich ein Zeichen von Schwäche.
Putins Position ist angeschlagen. Zwar gibt es kaum direkte Kritik am Präsidenten. Aber Putin muss zuschauen, wie unbotmäßige Stimmen zunehmen. Das sind nicht nur die rechtsnationalistischen Militärblogger, die angesichts des Rückzugs von Cherson von „Verrat“ und von der „schwarzen Seite in der Geschichte der russischen Armee“ sprechen. Es sind auch Akteure, die über eigene militärische Ressourcen verfügen – wie Tschetscheniens Machthaber Ramzan Kadyrov und der Finanzier der Söldnergruppe Wagner, Jevgenij Prigožin. Zwar haben beide den Rückzug vom Westufer des Dnjepr gutgeheißen. Aber sie nehmen sich immer mehr Freiraum für Kritik, insbesondere an der russischen Militärführung heraus. Sie wollen die Karriereleiter politischer Macht weiter nach oben steigen. Trotz ihrer militärischen Söldnergruppen werden sie aber dennoch bald an die gläserne Decke stoßen. Die Geheimdienste werden ihren Aufstieg nach ganz oben zu blockieren wissen. Noch kontrolliert Putin diese beiden, aber beide nutzen die sich verstärkende Schwäche Putins.
Putin wirkt aber in anderen Bereichen derzeit politisch glücklos. Nach dem Drohnenangriff der Ukraine auf Schiffe der russischen Schwarzmeerflotte, hat Russland seine Teilnahme am Abkommen zum Export ukrainischen Getreides ausgesetzt. All das, um nur Tage später eine Kehrtwende zu machen. Russland hatte mit ansehen müssen, dass die Exportschiffe für das Getreide unbeeindruckt weiter machten und Russland ignorierten. Am 19. November wird das Abkommen auslaufen. Die Türkei und die UN drängen auf eine Verlängerung. Putin stellt noch Bedingungen: Russlands Exporte von Getreide und Düngemitteln sollten nicht weiter behindert werden. Wird sich Putin diesmal durchsetzen? Oder wird er wieder klein beigeben müssen, weil er merkt, dass seine Verhandlungsmacht zu gering ist?
Putins Zugriff auf die Macht ist derzeit zweifellos nicht gefährdet. Aber es sind Anzeichen eines bedingten Kontrollverlustes zu erkennen. Die Reihen um Putin werden unruhig. Viele stellen immer häufiger die Frage, welchen Preis das Land für einen Sieg in der Ukraine bezahlen muss. Immer mehr rechnen auch mit einer russischen Niederlage in diesem Krieg. Putin wird darauf Antworten finden müssen. Bald. Die Zeichen stehen auf Sturm.
Dieser Kommentar ist am 14.11.2022 als Gastbeitrag auf focus.de erschienen: ttps://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-putins-verpuffte-nukleardrohung-ist-deutliches-zeichen-seiner-schwaeche_id_179693243.html
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