Der Zarenthron Putins wackle. Das Land stehe vor einem Machtkampf in der Führungselite, der sich zu einem Bürgerkrieg auswachsen könnte. So sehen es einige Beobachter in den USA, aber auch in der EU. Diesem Befund kann ich nicht viel abgewinnen. Putin ist zwar ein gegenwärtig „zurückgezogener Zar“, der mit schlechten Nachrichten von der Front nicht in Verbindung gebracht werden will. Es ist auch richtig, dass sich in der Führungselite die Anzeichen mehren, dass immer mehr auch eine Kriegsniederlage Russlands für möglich halten. Die Fragen nehmen auch zu, welchen Preis Russland für den Sieg im Krieg mit der Ukraine bezahlen soll. Es gibt also Anzeichen von Unruhe und Aufregung.
Dazu kommen Figuren wie der Finanzier der Söldnergruppe Wagner Jevgenij Prigožin oder der tschetschenische Präsident Ramzan Kadyrov, die in den letzten Wochen sehr selbstbewusst und mit lauter Stimme aufgetreten sind. Beide haben die Führung des Verteidigungsministeriums und den Generalstab sehr scharf attackiert. Manchem General wurde ausgerichtet, völlig unfähig zu sein. Manche Beobachter mahnen auch, dass beide Söldner zur Verfügung haben – die Gruppe Wagner und die Kadyrovzy, die in einem offenen Machtkampf eine Rolle spielen könnten. Nach meiner Bewertung werden beide aber an eine gläserne Decke stoßen. Der Inlandsgeheimdienst FSB wird ihnen den Zutritt zum Inneren der Macht verwehren.
Putins Position als Zar ist derzeit also nicht gefährdet. Bei all den Informationen über einen heftigen Machtkampf in der russischen Elite dürfen wir auch nicht vergessen, dass wir uns derzeit in einem Informationskrieg befinden. Gerüchte über Bruchlinien in der russischen Führung werden natürlich auch absichtlich gestreut. Das bedeutet aber nicht, dass Putins Position keineswegs gefährdet werden könnte. Bei einer sich abzeichnenden drastischen Niederlage in der Ukraine, wird er sich kaum an der Macht halten können.
Putins zeigt aber zweifellos Zeichen der Schwäche. Der Rückzug der russischen Truppen vom Westufer des Dnjepr in der Region Cherson war schon die dritte große militärische Niederlage der russischen Armee seit Kriegsbeginn. Gerüchten zufolge hatte sich Putin lange gegen den Rückzug ausgesprochen. Wenn dies stimmt, musste er offenbar schließlich doch die dringlichen Empfehlungen der Militärführung übernehmen. Das Westufer war sichtlich militärisch nicht mehr zu halten gewesen.
Die Schwäche zeigte sich auf im Umgang mit dem von den Vereinten Nationen und der Türkei vermittelten Getreideabkommen, das es der Ukraine ermöglicht, über drei Häfen Getreide zu exportieren. Nach einem ukrainischen Drohnenangriff auf die russische Schwarzmeerflotte erklärte die russische Führung, die Teilnahme an diesem Abkommen auszusetzen. Aber anders als erwartet, setzten die anderen drei Parteien des Abkommens die Exportverschiffungen weiter fort – eben ohne Russland. Russlands bloße implizite Drohung, militärisch gegen die Getreidefrachter vorzugehen, blieb ohne Wirkung. Russland ist wenige Tage später dem Abkommen wieder beigetreten und hat schließlich auch der Verlängerung des Vertrages für weitere 120 Tage zugestimmt.
Putins Nimbus der Unbesiegbarkeit, des ständigen Erfolgs ist zweifellos angeschlagen. Ein Anführer aber, der nicht mehr gewinnt, verliert an Autorität. Das trifft derzeit auch auf Putin zu. Zudem hat die Unterstützung der Bevölkerung für ihren Präsidenten abgenommen. Die von Putin nicht umsonst so lange hinausgezögerte Teilmobilmachung hat die Stimmung verändert. Der vorher zelebrierte Anschein der Normalität ist einer bitteren Realität gewichen – Väter und Söhne wurden aus ihren Familien herausgerissen und an die Front geschickt. Dadurch ist der Krieg nun in fast jeden Haushalt eingedrungen. Spätestens damit erkannte eine Mehrheit der Bevölkerung, dass die „militärische Spezialoperation“, anders als behauptet, eben nicht nach Plan verlaufen war. Daher hat Putin auch in der Bevölkerung das Image des ständig erfolgreichen Präsidenten einigermaßen eingebüßt.
Schwächen und militärische Niederlagen haben Putins Position im Machtgefüge also sicher verschlechtert. Aber von einem Sturz Putins sind wir noch weit entfernt. Da mag die Erwartung in vielen Berichten über einen bevorstehenden Machtkampf in der russischen Führung oft wohl auch einem Wunschdenken geschuldet sein.
Der Kommentar ist als Gastbeitrag am 25.11.2022 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/putin-ist-nicht-unbesiegbar-von-einem-sturz-aber-weit-entfernt_id_180310493.html).
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