Die Frontlinien im Ukrainekrieg haben sich in den letzten Wochen kaum verändert. Derzeit befinden sich beide Seiten in einem statischen Zermürbungskrieg. Allerdings geht die ukrainische Führung offiziell von einer bevorstehenden russischen Offensive in einigen Wochen aus. Es ist allerdings fraglich, ob die russische Armee wirklich stark genug ist, um eine neue Offensive durchzuführen. Ganz sicher wird es in einigen Wochen eine ukrainische Offensive geben, sehr wahrscheinlich gegen die südukrainische Stadt Melitopol in Richtung Asowsches Meer.
Die Wahrscheinlichkeit erfolgreicher ukrainischer Offensiven steigt natürlich durch die Lieferung von Schützenpanzern, bald wohl auch von Kampfpanzern und weitreichender Artillerie. Dadurch wird es zwar nicht automatisch zu militärischen Erfolgen der ukrainischen Armee kommen, aber die Wahrscheinlichkeit nimmt deutlich zu.
Kann Russland den Krieg gegen die Ukraine also verlieren? Die Antwort auf die Frage hängt zunächst davon ab, wie Russland eine Kriegsniederlage definieren wird. Wird schon die Rückeroberung der seit 24. Februar von der russischen Armee besetzten Regionen als Niederlage klassifiziert? Oder ist die desaströse Niederlage erst dann erreicht, wenn Russland auch die seit 2014 besetzten Gebiete verliert, inklusive der Krim? Im ersten Szenario ist wohl von einer schmachvollen Kriegsniederlage Russlands auszugehen; im Falle des zweiten Szenarios wäre die Niederlage katastrophal. Was würde eine solche Niederlage in Russland aber bewirken?
Sollten die russischen Truppen sich vollständig aus der Ukraine zurückziehen müssen, wäre die Ablöse von Putin wohl unumgänglich. Die Frage ist nur, wie diese Ablöse erfolgen könnte. Durch einen freiwilligen Rücktritt, den Verzicht auf eine erneute Kandidatur für das Präsidentenamt 2024 oder durch den Sturz Putins durch Vertreter des innersten Kreises der Macht. Abhängig davon wird die Erschütterung der politischen Stabilität durch die Ablöse mehr oder weniger groß sein. Die Palastrevolte ist sicherlich das gefährlichste Szenario. Wer würde statt Putin übernehmen? Der Sekretär des Sicherheitsrates Patruschew, der Direktor des Inlandsgeheimdienstes FSB Bortnikov, oder der Vertreter einer jüngeren Generation wie etwa der Gouverneur der Region Tula, Alexander Djumin? So wünschenswert für viele auch der Machtverlust Putins ist, ist auf die erheblichen Instabilitäten hinzuweisen, die dadurch ausgelöst würden. Das Szenario der Machtübernahme durch eine Person, die das Verhältnis zum Westen grundsätzlich verbessern will, ist eher gering.
Bleibt Putin trotz einer Niederlage Präsident und wird 2024 in seinem Amt bestätigt, bedeutet das wohl die langandauernde Isolation Russlands. Solange Putin die Macht in den Händen hält, wird es keine Rückkehr zu business as usual geben.
Die militärische Niederlage in der Ukraine wird auch die Autorität Russlands als Stabilitätsgarant im post-sowjetischen Raum massiv erschüttern. Der Autoritätsverlust Russlands durch den schleppenden Krieg hat schon jetzt Auswirkungen auf den Südkaukasus und Zentralasien. Russland wäre nach einer desaströsen Niederlage sicher nicht mehr fähig, Stabilitätsanker in diesen Regionen zu sein. Schon jetzt ist das in vielen Fällen nicht mehr gegeben – etwa im Konflikt zwischen Armenien und Azerbaijan oder im anhaltenden Grenzkonflikt zwischen Tajikistan und Kirgistan. Das wird zu einer außenpolitischen Neuausrichtung von post-sowjetischen Staaten führen. Auch könnten dadurch neue militärische Konflikte im Südkaukasus oder Zentralasien entstehen.
Bei einer desaströsen Niederlage wankt auch der Status Russlands als Großmacht. Durch die Unterstützung der Ukraine können die USA den Rivalen Russland auf lange Sicht schwächen. Das würde es den USA erlauben, sich nahezu vollständig nur noch auf den systemischen Rivalen China zu konzentrieren. Russlands Fähigkeit zur Ausübung von Gegenmacht im Hinblick auf die derzeitige internationale Ordnung würde deutlich zurückgehen. Das Gewicht Russlands in der internationalen Politik würde durch eine vollständige Niederlage sicher deutlich geringer werden.
Russland würde, derart geschwächt, in ein klares Abhängigkeitsverhältnis zu China geraten. Das würde die bestehende strategische Partnerschaft zwischen beiden Staaten deutlich verändern. Solange die Feindschaft zwischen Russland und dem Westen aufrecht bleibt, ist dies ein Gewinn für die chinesische Außenpolitik. Sie muss nicht fürchten, dass Russland sich in den nächsten Jahren mit dem Westen gegen China stellen wird. Die Wahrscheinlichkeit dafür ist zwar auch jetzt schon äußerst gering, aber nach einer Kriegsniederlage ohne Regimewechsel in Russland würde diese Option gänzlich verschwinden.
Einige Beobachter fürchten bzw. hoffen auch darauf, dass eine Kriegsniederlage zum Zusammenbruch der staatlichen Integrität Russlands führen wird. Das Land könnte auseinanderbrechen. Das ist allerdings ein Szenario, das erhebliche Sicherheitsrisiken mit sich brächte. Ist das Risiko akzeptabel, dass die größte Nuklearmacht der Welt auseinanderfällt? So sehr sich das manche wünschen, so unwahrscheinlich ist das für den Autor.
Das größte Risiko ist allerdings, dass Russland zur Abwendung einer desaströsen Kriegsniederlag, insbesondere bei einem Rückeroberungsversuch der Krim durch die ukrainische Armee, den Gewaltkonflikt nuklear eskalieren würde. Dieses Restrisiko gilt es sicherlich zu berücksichtigen, wenn man darüber nachdenkt, wie stark Russland den Ukrainekrieg verlieren soll.
Dieser Kommentar ist am 11.1.2023 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/ausland/ukraine-krise/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-die-palastrevolte-ist-fuer-putin-sicherlich-das-gefaehrlichste-szenario_id_182764514.html)
Photo credit: https://www.theguardian.com/world/live/2023/jan/07/russia-ukraine-war-kyiv-accuses-moscow-of-shelling-despite-putins-unilateral-ceasefire-live