Das neue außenpolitische Konzept Russlands unterscheidet sich deutlich von seinem Vorgängerdokument aus dem Jahr 2016. Es sieht den Westen als “existentielle Bedrohung für die Sicherheit und Entwicklung” des Landes. Diese Einstufung hat es in offiziellen Dokumenten im post-sowjetischen Russland noch nie gegeben. Die Distanz zwischen Russland und dem Westen war auch nie größer gewesen als jetzt konstatiert. Dem Westen, mit dem man 2016 noch auf Zusammenarbeit setzte, wird nun eine „anti-russische Politik“ und „Russophobie“ vorgeworfen, die darauf abziele, Russland in jeder Hinsicht zu schwächen. Der Terminus „existentielle Bedrohung“ ist aber auch ein alarmierender Begriff. Die russische Nukleardoktrin sieht den Einsatz von Nuklearwaffen für den Fall einer „existentiellen Bedrohung der Staatlichkeit“ vor.
Gleichzeitig betont das Dokument, Russland sehe sich nicht als “Feind des Westens”, wolle sich ihm gegenüber nicht isolieren und hege “keine feindlichen Absichten” gegen den Westen. Man setze auf “pragmatische Kooperation”. Das geht schwer zusammen. Wenn ich mich von einem Staat existentiell bedroht fühle, ihn aber gleichzeitig nicht als meinen Feind betrachte, hat das etwas biblisch Neutestamentarisches.
Wie immer Russland sich selbst versteht, Russland ist vom Westen völlig isoliert – politisch, wirtschaftlich, technologisch und militärisch. Diese Eiszeit wird auch lange anhalten; mindestens so lange, wie Vladimir Putin an der Macht sein wird. Aber selbst wenn Putin gehen /gestürzt werden sollte, ihm aber ein ähnlich Denkender nachfolgt, wird dieser Status eines Aussätzigen bleiben.
Aus dieser Isolation auszubrechen, ist das Ziel einer Werbeoffensive um den „globalen Süden“. Nicht nur Indien und China sind dabei im Blickpunkt, sondern allen voran afrikanische, arabische und lateinamerikanische Länder. Dazu dient das russische Konzept der – angeblich erforderlichen – „Dekolonialisierung“, mit dem angedeutet wird, Russland werde den Ländern des globalen Südens dabei helfen, die kolonialen Fesseln des Westens abzuwerfen.
Auffallend an dem neuen Dokument ist die Wiederbelebung von Begriffen aus dem Kalten Krieg – insbesondere die Termini „friedliche Koexistenz“ und „strategische (Anm.: nukleare) Parität“ kehren zurück. Eine solche friedliche Koexistenz sei mit dem Westen möglich, wenn dieser die Nutzlosigkeit seines antirussischen Kurses erkenne und, wenn insbesondere die europäischen Länder sich der Dominanz der USA entziehen werden. Da ist sie wieder – die alte sowjetisch/russische Strategie, einen Keil zwischen den USA und Europa zu treiben. Mit den USA solle auf der Basis der nuklearen Parität die Bereitstellung von Stabilität und internationaler Sicherheit gewährleistet werden. Dabei ist das Misstrauen, ja die tiefe Ablehnung der Außenpolitik der USA durch die russische Führung an vielen Stellen des Konzepts erkennbar.
Das Außenpolitische Konzept ist für die russische Diplomatie keine unmittelbare Handlungsanleitung. Sie dient als allgemeiner Rahmen der Außenpolitik Russlands und dokumentiert die Weltsicht der russischen Führung. Das gibt westlicher Außenpolitik einen Bezugs- und Ordnungsrahmen für die eigene Russlandpolitik. Diese muss den tiefen Graben zwischen Russland und den eigenen Staaten zur Kenntnis nehmen. Weder auf westlicher, noch auf russischer Seite gibt es noch ein Grundvertrauen oder einen Rest Hoffnung, dass diese Gräben in absehbarer Zeit überbrückt werden können.
Der Westen und Russland finden sich auf den Seiten der neuen, militärisch hochgerüsteten Teilungslinie in Europa wieder. Die Teilungslinie läuft entlang der Ostgrenzen Finnlands und der baltischen Staaten, entlang an jener Polens, die Frontlinie in der Ukraine und die Ostgrenzen von Moldawien. Das ist – zumindest bislang – kein neuer Eiserner Vorhang, aber ein wechselseitiges Bollwerk gegen die andere, als Feind eingestufte Seite.
Dieser Text ist am 11.4.2023 als Gastbeitrag auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/ausland/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-in-russlands-neuem-aussenpolitischem-konzept-faellt-ein-alarmierender-begriff_id_190831649.html)
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