Versteckte oder offene russische Drohungen, im Krieg gegen die Ukraine auch nicht vor dem Einsatz von Nuklearwaffen zurückzuschrecken, gab es schon zu Beginn des Überfalls. „Wer auch immer versucht, uns zu behindern, geschweige denn unser Land, unser Volk zu bedrohen, muss wissen, dass Russlands Antwort sofort erfolgen und für euch solche Folgen haben wird, wie ihr sie in eurer Geschichte noch nie gehabt habt.“ Die nukleare Drohung Putins war damit auf dem Tisch. Seitdem waren derartige Drohungen immer wieder zu hören.
Die russische Nukleardoktrin vom Juni 2020 sieht den Einsatz von Nuklearwaffen für den Fall eines nuklearen Angriffs auf Russland und seine Alliierten vor, aber auch im Rahmen eines konventionellen Konflikts, in dem die Existenz des russischen Staates auf dem Spiel stehe. Putin erklärte im Herbst 2022 implizit, der Einsatz nuklearer Waffen sei auch möglich, wenn die territoriale Integrität Russlands bedroht sei. Nachdem die russische Führung völkerrechtwidrig die ukrainischen Regionen Donezk, Lugansk, Zaporizhia und Cherson als Teil Russlands sieht, stellt sich die Frage, ob eine erfolgreiche Gegenoffensive der ukrainischen Armee in diesen Regionen ein nukleares Inferno auslösen könnte.
Ich bin nicht dieser Ansicht. Die Möglichkeit des Einsatzes von taktischen Nuklearwaffen gibt es aber zweifellos dann, wenn die ukrainische Offensive die russische Kontrolle der Krim gefährden würde. Das Risiko einer nuklearen Eskalation steigt also mit der Reichweite tatsächlicher ukrainischer Kriegsziele. Die Führung in Kiyv erklärt die Rückeroberung des gesamten Territoriums, das seit 2014 verloren gegangen ist, als Kriegsziel; die Rückeroberung der Krim ist darin eingeschlossen. In diesem maximalistischen Kriegsziel wird die Ukraine auch von den nord- und osteuropäischen Ländern unterstützt.
Ein Verlust der Krim und der Hafenstadt Sevastopol würde aber wohl mit dem Sturz Putins einhergehen. Putin will und muss daher ein solches militärisches Desaster seines Überfalls unbedingt vermeiden. In einem solchen Szenario wird der Einsatz von taktischen Nuklearwaffen durchaus möglich, wenn auch nicht wahrscheinlich. Dieses Eskalationsrisiko muss von der westlichen Politik bearbeitet und berücksichtigt werden.
Diejenigen, die das maximalistische Kriegsziel der Ukraine unterstützen, reden die Gefahr einer nuklearen Eskalation klein. Die russische Seite bluffe nur und wolle Angst und Unsicherheit in den Bevölkerungen westlicher Staaten erzeugen. Der Westen solle sich also nicht selber abschrecken, d.h. aus Angst vor einer nuklearen Eskalation die Unterstützung der Ukraine begrenzen. Mag sein, dass diese Stimmen recht haben. Aber ist es angesichts der katastrophalen Konsequenzen des Einsatzes von Nuklearwaffen nicht inakzeptabel, es darauf ankommen zu lassen, ob die russische Führung nur blufft? Ich denke nein.
In einer derartigen Konstellation ist es durchaus respektabel, Angst vor einer katastrophalen Eskalation zu haben und daher nur moderatere Kriegsziele der Ukraine zu unterstützen – wie etwa das Zurückdrängen der russischen Invasoren auf die Frontlinie vor dem 2022 entfesselten Krieg. Westliche Staaten sagen immer geschlossen, nur die Ukraine könne und solle die Kriegsziele in diesem Abwehrkampf bestimmen. Das klingt zunächst verständlich und geboten. Hinter den Kulissen gibt es im Westen aber sehr wohl Streit darüber, zu welchen Kriegszielen die Ukraine mit welchen westlichen Waffen befähigt werden soll. Letztlich ist es damit der Westen, der über die erreichbaren Kriegsziele entscheidet. Er sollte sich seiner Verantwortung bewusst sein.
Zu betonen ist allerdings trotzdem, dass außer den verbalen Drohungen derzeit (!) nichts auf einen Einsatz taktischer Nuklearwaffen hindeutet. Keine einzige dieser Waffen wurde aus ihrem Lager herausgeholt und bewegt. Wenn das passiert, dann würde das Risiko des Einsatzes dieser Waffen steigen. Russland könnte damit immer noch nur bluffen. Aber wer, der politische Verantwortung trägt, wollte und sollte es darauf ankommen lassen?
Dieser Kommentar ist als Gastbeitrag am 24.6.2023 auf focus.de erschienen.
Photo credit: https://en.wikipedia.org/wiki/Effects_of_nuclear_explosions#/media/File:Atomic_blast_Nevada_Yucca_1951_(better_quality).png
Was halten Sie vom Inhalt dieser, offiziellen NATO Webseite (die man anscheinend vergessen hat komplett zu löschen) im Zusammenhang mit einer möglichen Provokation Russlands?
* https://www.nato.int/structur/nmlo/nmlo_kyiv.htm