Russlands Überfall auf die Ukraine war zunächst zweifellos eine persönliche Entscheidung von Vladimir Putin, getragen von außenpolitischem Revisionismus und historischem Revanchismus. Gleichzeitig wäre es völlig irreführend anzunehmen, dass es zu keinem Krieg gekommen wäre, wäre Putin nicht mehr an der Macht gewesen. Madeleine Albright, frühere US Secretary of State, meinte einst: „Putin ist ein kluger, aber auch ein böser Mensch“. Das mag sein, aber es ist völlig verkürzt, die russische Außenpolitik Russlands zu personalisieren. Hinter der aggressiven Außenpolitik, die Russland spätestens seit 2008 verfolgt, steht ein breiter Konsens unter den Eliten des russischen Militär- und Sicherheitssektors. Misstrauen gegenüber dem Westen, das Gefühl, ungerecht behandelt worden zu sein und die Auffassung, Russland habe das Recht, als Großmacht in Teilen seiner historischen Grenzen wiederzuerstehen, eint dieses Lager.
Von diesem Konsens ausgenommen sind natürlich die Wirtschafts- und Finanzexperten in der Regierung und auch ein Großteil der Unternehmerschaft in Russland. Beide Akteure aber spielen für die Entscheidungsfindung in der Außen- und Sicherheitspolitik des Landes nahezu keine Rolle.
Es ist daher nicht zutreffend, dass der rechtswidrige Krieg Russlands gegen die Ukraine nur „Putins Krieg“ ist; es ist ein Krieg, den die allermeisten in der Führungsriege befürworten. Der russische Überfall ist damit jedenfalls ein Krieg der gesamten Sicherheits- und Militärelite des Landes.
Hoffnungen oder gar Erwartungen, nach dem Ausscheiden Putins aus dem Präsidentenamt – durch Rücktritt, Tod oder Absetzung – werde ein Nachfolger eine radikale Kursänderung vornehmen, sind daher gänzlich unangebracht. Wie immer Putin aus dem Amt scheiden wird, der Nachfolger wird aus demselben Milieu kommen, das für diese fatale Kriegsentscheidung verantwortlich ist. Kein Nachfolger würde die Kapitulation Russlands unterzeichnen. Es gibt in Russland auch nicht einen westfreundlichen Akteur, der auch nur den Hauch einer Chance hätte, die Macht im Staat zu übernehmen.
Auch im Inneren ist derzeit keine Liberalisierung zu erwarten. Putins Nachfolge wird sein Erbe fortsetzen: eine durch Angst, Repression und Propaganda vorangetriebene Atomisierung der Gesellschaft; Unterdrückung von politischem Dissens; zentralistische Staatsführung; ein autoritärer Führungsstil und die gleiche Missachtung gegenüber (demokratischen) Institutionen wie Putin sie zeigt. Das Erbe ist auch eine apathische, resignative und schulterzuckende Bevölkerung. Durch Inhaftierung oder erzwungenes Exil fehlt in einer Nach-Putin-Ära auch die personelle und organisatorische Grundlage für eine neue Demokratiebewegung.
Angesichts dieses repressiven Drucks der Staatsführung nach Innen ist es auch weitgehend unzulässig, davon zu sprechen, dass der Überfall auf die Ukraine ein „russischer Krieg“ sein, verstanden als Krieg, der von wesentlichen Teilen der Bevölkerung aktiv unterstützt würde. Es ist nur ein kleiner Teil der Bevölkerung, die diesen Krieg aktiv unterstützt. Ein viel größerer Teil der Bevölkerung nimmt diesen Krieg schulterzuckend zur Kenntnis; sie sind seit langer Zeit resignativ und erwarten sich von der Staatsführung keine Wende zum Besseren. Ein anderer Teil der Bevölkerung versteht zwar nicht, warum dieser Krieg geführt wird, denkt sich aber, Putin als weiser Zar werde schon wissen, was er tut.
Eine Minderheit der Bevölkerung, die „kreative Klasse der besser verdienenden, besser gebildeten und urbanen Bevölkerung lehnt diesen Krieg ab. Harte Zensurgesetze und Angst vor physischen Übergriffen des Staates lässt diesen Protest aber nicht sichtbar werden. Zudem sind viele aus dieser Bevölkerungsschicht mittlerweile im Ausland, haben Russland verlassen. Es wäre daher völlig ungerecht zu behaupten, das sei ein Krieg des ganzen Russland. Völlig unzulässig wäre es, die Invasion der Ukraine als „Krieg der Russen“ zu bezeichnen. Manche Kommentatoren haben aber dennoch immer wieder auf die angeblich volle Mitverantwortung des russischen Volkes verwiesen. Das nährt gezielt russophobe Haltungen und führt dazu, dass viele mit russischer Kultur nichts mehr zu tun haben wollen.
Nein, dieser Krieg ist der „Krieg der russischen Herrschaftskaste“, der große Teile der russischen Bevölkerung in Geiselhaft nimmt. Ein Umstand, der auch nicht verschwinden wird, wenn Putin einmal von der Macht verdrängt werden sollte.
Dieser Text ist am 11.7.2023 auf focus.de erschienen (https://www.focus.de/politik/ausland/gastbeitrag-von-gerhard-mangott-warum-der-ueberfall-auf-die-ukraine-viel-mehr-als-nur-putins-krieg-ist_id_198794688.html)
Photo credit: https://asia.nikkei.com/Politics/Ukraine-war/Russia-s-annexations-in-Ukraine-echo-prelude-to-World-War-II-in-Europe2
Guter Artikel !
Genauso wird es wohl sein.
“Ein viel größerer Teil der Bevölkerung nimmt diesen Krieg schulterzuckend zur Kenntnis; sie sind seit langer Zeit resignativ und erwarten sich von der Staatsführung keine Wende zum Besseren.”
Nach den vielen Interview-videos der russischen Bevölkerung die man auf youtube sehen kann, zu urteilen, stimmt das vollkommen ! Das ist ziemlich deprimierend. Man hat den Eindruck sie haben das selbstständige Denken aufgegeben.
Vielleicht müsste man versuchen an diese Leute “ranzukommen” um sie zum Umdenken zu bewegen ?