eren keskin und die freiheit des wortes

Der türkische Rechtsstaat hat sein autoritäres Gesicht wieder einmal gezeigt: Eren Keskin, Streiterin für Menschen- und Bürgerrechte, wurde von einem Richter für mehr als ein halbes Jahr zu Kerkerhaft verurteilt. Ihr ‚Verbrechen‘: Keskin hat in einem Gespräch mit dem ‚Tagesspiegel‘ im Jahr 2006 die Stellung des türkischen Militärs in der türkischen Innen- und Außenpolitik kritisiert. Das aber sieht der Richter in einem asiatischen Viertel Istanbuls als ‚Beleidigung des Türkentums‘. Das Strafgesetzbuch der Türkei sieht im § 301 drakonische Strafen vor – bis zu 3 Jahren Gefängnis; also sollte Keskin wohl noch dankbar sein, ob der Milde, die ihr durch das ‚Türkentum‘ zuteil wurde. Freilich ist da noch das Bemühen des Generalstabs der türkischen Streitkräfte, Keskin aus der Rechtsanwaltskammer der Türkei auszuschliessen. Ein Jahr Berufsverbot musste Keskin schon über sich ergehen lassen.

Keskin ist eine Frau, die seit vielen Jahren unerschrocken für Bürgerrechte eintritt – als Anwältin und Humanistin. Sie ist ein weiteres Opfer einer Rechtsordnung, die das Türkentum vor dem freien Wort, der Kritik und demokratischer Teilhabe schütze. Mag es bleiben wo es sei – das Türkentum. In Europa aber, hat es nichts verloren.

Foto: www.medicamondiale.org

14 thoughts on “eren keskin und die freiheit des wortes”

  1. Die Europäische Kommission drängt schon lange auf die Eliminierung dieses ominösen § 301 aus dem StGB. Solange das nicht passiert, sollte seitens der EU von der Aufnahme neuer Kapitel in den Beitrittsverhandlungsprozess tunlichst Abstand genommen werden. Aber offenbar nimmt sich die EU-Kommission selbst gar nicht ernst …

  2. Die Europäische Union ist in dieser Angelegenheit völlig unglaubwürdig. Es ist auch geradezu bizarr, dass die Europäische Kommission mit einem Staat über die Aufnahme in die Union verhandelt, dessen Streitkräfte das Territorium eines Mitgliedsstaates besetzt halten.

  3. Zypern wurde eben weit zu früh als MSt in die EU aufgenommen – und jetzt hat die EU das Problem eines geteilten MSt, dessen einer Teil von einem Beitrittskandidaten militärisch besetzt ist, am Hals. Ebenso wird die EU am "Kurdenproblem" würgen, wenn der Beitritt der Türkei zu früh (also noch vor der zufriedenstellenden Lösung dieses Problems) erfolgt. Von den Problemen, die die "Perspektiven für den Westbalkan" beinhalten, gar nicht zu reden…   

  4. Das sehe ich anders. Hätte die EU die Mitgliedschaft Zyperns verzögert, hätte dies der Türkei faktisch ein Veto über die Außenpolitik Zyperns gegeben. Insofern denke ich, war die Aufnahme Zyperns vertretbar. Nur hätte die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen mit der Türkei erst erfolgen sollen, nachdem sich die türkischen Streitkräfte aus dem Norden Zyperns zurückgezogen hätten.

  5. Die ganze Angelegenheit zeigt wieder einmal mehr, dass die Gestion der EU-Kommission von rein wirtschaftlichen Erwägungen dominiert wird: Da lockt mit der Türkei ein weiterer Markt von (derzeit) rund 80 Millionen Menschen, der möglichst rasch erschlossen werden soll. Andere Argumente zählen nicht. Es wurden seinerzeit ja auch von der Wirtschaft die anatolischen "Gastarbeiter" nach Deutschland und Österreich geholt, ohne auf etwaige gesellschaftliche Folgewirkungen Bedacht zu nehmen, mit denen sich jetzt sogar die katholische Amtskirche herumschlagen muss …

  6. Die Türkei befindet sich in einer Zwickmühle: Weder der vom
    Militär vertretene säkulare Nationalismus, noch der zivile Islamismus der
    Parlamentsmehrheit taugen für Europa. Die Problematik besteht darin, dass die
    beiden Pole sich die Balance halten: Je schwächer der eine, desto stärker der
    andere. Dies trübt die türkischen Zukunftsperspektiven – v.a. in Bezug auf
    einen EU-Beitritt und den damit einhergehenden Modernisierungschancen!  

  7. Anmerkung zu den wirtschaftlichen Erwägungen, warum ein rascher Beitritt der Türkei zur EU "wichtig" und ohne Rücksicht auf andere Einwände "unabdingbar" ist: Die Türkei ist mit der über ihr Territorium laufenden Nabucco-Pipeline ein strategischer Partner der Erdgasversorgung Westeuropas aus dem zentralasiatischen Raum, an der die OMV wesentlich beteiligt ist – nicht zuletzt auch über den in ihrem Besitz befindlichen "Gashub" in Baumgarten an der March, dem künftigen Endpunkt von "Nabucco". OMV-Generaldirektor Ruttensdorfer ist Österreichs einziges Mitglied in der wichtigsten Industrielobbyorganisation in Brüssel, dem "European Round Table", der bereits seit Jahren den beschleunigten Beitritt der Türkei zur EU ohne Wenn und Aber forciert anstrebt, womit sich die "wirtschaftsfreundliche Argumentationskette" schließt. Moralische oder idealistische oder sonstige Bedenken haben da keinen Platz und das Vorgehen der EU-Kommission wird erst dadurch so ziemlich einleuchtend … Premier Erdogan und seine AKP bauen auf diese Sachzwänge, in denen sich Europa gefangen sieht – und handeln als politische  Realisten darnach.

  8. @Karl Heiden: Sie machen sich es aber einfach, die Beitrittspolitik der EU rein auf wirtschaftliche Interessen zu reduzieren. Auch Ihre Argumentation, warum der Beitritt der Türkei wichtig und unabdingbar sei, stützt sich nur auf ökonomische Gesichtspunkte. Haben Sie sich eigentlich schon mal die Europäische Union in ihrer ganzen Konstitution und Tragweite angeschaut? Oder einen Blick in die Geschichte riskiert? Das würde Ihnen zeigen, dass die Union weit mehr als nur ein wirtschaftliches Projekt ist und eben nicht nur von ökonomischen Ideen geleitet wird.

  9. @Matthias: Der "Blick in die Geschichte" zeigt, dass bereits der Ursprung der EU – nämlich die EGKS – neben dem "Friedensprojekt", als das sie stets apostrophiert wird, auch ein wesentliches Instrument zur Steuerung des Kohle(Koks)- und Stahlmarktes bei anstehender Bewältigung einer partiellen Stahlüberproduktion Frankreichs und dem notwendigen Zugriff auf die Ruhrkohle für Frankreich in der unmittelbaren Nachkriegszeit war. Jean Monnet, dem großen "Kommissar" und Wirtschaftsplaner im direkten Auftrag de Gaulles, kam es vor allem darauf an. Erst nach und nach, im Zuge der fortschreitenden wirtschaftlichen Integration durch die Hohe Behörde, wurde es erforderlich, auch andere Politikfelder ineinander zu verschränken, um den wirtschaftlichen Integrationsprozess nicht zum Stocken zu bringen, wobei das Ganze im Laufe der Zeit in Rück- und Fortschritten vor sich ging. Im übrigen ist mein beanstandeter Kommentar (bezüglich Türkei) von einem leicht kritisch-resignativen Unterton begleitet – oder etwa nicht ?

  10. @Karl Heiden: Von diesem Gesichtspunkt hab ich die Integration der EU noch nie betrachtet. Kann man das Argument (Stahlüberproduktion&Jean Monnet) irgendwo nachlesen? 

  11. @Ganymed: Ja, und zwar in: Carl Horst Hahn, Der Schuman-Plan. Eine Untersuchung im besonderen Hinblick auf die deutsch-französische Stahlindustrie. München 1953. Hahn hatte an der Universität Bern zum Dr.rer.pol. promoviert und am Institut d’Etudes Politiques der Université de Paris ein zusätzliches Zertifikat erlangt. Ich habe dieses akribisch verfasste Werk u.a. auch als Quelle für ein Referat in einem Seminar "Die europäische Integration" am Institut für Zeitgeschichte bei Prof. Rolf Steininger verwendet.

  12. Ganz verstehe ich auch nicht warum die Türkei so auf eine Mitgliedschaft pocht. Eine priveligierte Partnerschaftliche Beziehung, wie das so schön heißt, hätte doch erhebliche Vorteile.Einerseits müsste die türkische Politik keine EU Richtlinien übernehmen die, vor allem im gesellschaftlichen Bereich, bei der eigenen Bevölkerung kaum akzeptiert werden.  Das spart innenpolitisch einiges an Streitereien. Andererseits würde noch immer Platz für eine, für beide Seiten attraktive Wirtschaftspolitik da sein.Das gilt auch für die EU. Man muss nicht auf einen 100 Mio. Einwohner Staat (der Fast 1/6 der EU Bevölkerung stellen würde) Rücksicht nehmen, muss nicht Mrd. in die türkische Landwirtschaft buttern und kann durch geschickte Verhandlungen trotzdem auf den türkischen Markt zugreifen. Bzgl Zyper: Hat nicht die Südzypriotische Bevölkerung in einem Referendum die Vereinigung abgelehnt 

  13. @gls: Die Vollmitgliedschaft in der damaligen EWG wurde bereits 1963 vom CDU-Politiker Walter Hallstein, ehemaliger Staatssekretär im Bonner Außenministerium während der Ära Adenauer, der Türkei anläßlich einer Rede in Ankara versprochen. Seither pocht die Türkei (die damals auch von der NATO als Absicherer der Südflanke gegen die Sowjetunion gebraucht wurde) auf die Einlösung dieses deutschen Versprechens. Hallstein wurde später übrigens der erste EU-Kommissionspräsident. Und die Türkei fühlt sich von der EU immer noch "hingehalten".

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